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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland
Autoren: Wladimir Kaminer
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beispielsweise tatsächlich alle, auch
wenn nicht alle den richtigen Ton treffen. Und jeder in meiner Generation kann mehr schlecht als recht Gitarre spielen. Schuld an der gehobenen geistigen Entwicklung war der Sozialismus. In diesem gesellschaftlichen System, das auf totale Gleichheit und Gerechtigkeit aus war, hatte die Mehrheit der Männer keine Möglichkeit anzugeben, weder mit ihren Autos noch mit ihren Anzügen. Es hatten nämlich alle die gleichen Autos und Anzüge. Auch die meisten Lebensläufe waren gleich. Die Karrieren im Sozialismus waren absehbar, weder Streber noch Faulenzer konnten sich in der Planwirtschaft entfalten, alle Wege, die nach oben oder nach unten führten, überwachte der Staat. Deswegen blieb den Männern in der Sowjetunion kaum etwas anderes übrig, als sich in den Dienst der schwarzen Balalaika zu stellen, d.h. zu singen, zu dichten oder zu malen, um bei den Frauen anzukommen. Jeder war ein Künstler, ein Schauspieler, ein Schriftsteller, ein Maler oder Bildhauer. Besonders große Popularität genossen bei den Mädchen natürlich Rockmusiker. Die Sowjetunion war weltweit führend in der Produktion von Sperrholzgitarren. Am Lagerfeuer, am Strand, im Zug und in der Küche wimmelte es von mehr oder weniger charismatischen Gitarristen, die einander zu übersingen versuchten. Überall wurden lautstark Wettbewerbe ausgetragen, außer am Arbeitsplatz. Mit seiner Arbeitsleistung anzugeben, war im Sozialismus verpönt. Arbeiten mit heruntergelassenen Ärmeln gehörte zum guten Ton.
    In Deutschland geben die Menschen dagegen ständig mit ihrer Arbeitsleistung an, und der Wettbewerb innerhalb
bestimmter Berufsgruppen hat längst nahezu unerträgliche Dimensionen erreicht. Besonders stark ausgeprägt ist dieser Wettbewerb unter Zahnärzten und Friseuren. Einmal ist mir während einer Lesereise eine Füllung herausgefallen. Mein Zahnarzt saß in Berlin, ich fuhr durch Süddeutschland. In der Nähe von Schwieberdingen ging ich daher zum einzigen Zahnarzt, den es dort gab. Er schaute mir in den Mund, wurde grün im Gesicht und fiel beinahe vom Stuhl.
    »Wer hat Ihnen das angetan?«, schrie er fast. »War es jemand aus Schwieberdingen?«
    »Nein, nein«, sagte ich, »es war einer aus Berlin.«
    »Ach, Berlin… Das dachte ich mir fast«, sagte der schwäbische Zahnarzt. »In Berlin wissen sie nicht einmal, wie man einen Bohrer richtig hält. In Berlin werden gescheiterte Krankenschwestern zu Zahnärztinnen umgeschult ! Ein Glück für Sie, junger Mann, dass Sie mir begegnet sind.«
    Er bot mir an, den ganzen Berliner Schrott aus meinem Mund herauszubohren und stattdessen süddeutsche Qualitätsarbeit zu implantieren. Ich verzichtete dankend auf sein Angebot. Ich musste am gleichen Tag weiter und lief deswegen mit einem Provisorium davon. Am nächsten Tag, bei Frankfurt, fiel mir das schwäbische Provisorium heraus. Der hessische Zahnarzt wurde grün und fiel fast vom Stuhl.
    »Wer hat Ihnen das angetan?«
    »Ein Berliner und ein Schwabe, ist aber doch egal!«, erwiderte ich etwas nervös.

    »Diese Menschen sind amoralisch und als Ärzte nicht tragbar«, schimpfte der hessische Zahnarzt. »Sie benutzen Materialen, die längst überholt sind. Außerdem wachsen ihnen die Hände aus dem Arsch, sie können nicht einmal ein Provisorium richtig einsetzen!«
    Das hessische Provisorium hielt zwei Tage. Es fiel erst in Delmenhorst heraus.
    »Kommen Sie direkt aus einem russischen Straflager?«, fragte mich die höfliche norddeutsche Zahnärztin. »Eine solche absonderliche zahnärztliche Behandlung habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wer war zuletzt an Ihren Zähnen dran?«
    »Ein Hesse, ein Schwabe und ein Berliner«, antwortete ich.
    »Oh, Sie Pechvogel!« Sie rollte mit den Augen.
    In Berlin angekommen, erzählte ich meinem Zahnarzt diese Geschichte. Er wurde unglaublich zornig, wollte sofort die Telefonnummern und genauen Adressen der Kollegen und ging bereits blass vor Wut die Koffer packen. Ich dachte schon, jetzt werden sie sich zu Tode bohren, ich habe einen zahnärztlichen Krieg verursacht. Bis heute weiß ich nicht, wie der Krieg ausgegangen ist, ich war seitdem bei keinem Zahnarzt mehr.
    Aber auch Friseure neigen zu extremem Wettbewerbsdenken. Als ich neulich in der Nähe von Stuttgart beschloss, mir die Haare schneiden zu lassen, fing der Friseur sofort mit dem gleichen Lied an: »Wer war denn bloß an Ihren Haaren dran? Wer hat Ihnen das angetan?«
    »Schluss jetzt!«, rief ich laut und
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