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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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geben!“
    Wenn unser Doktor wirklich aufgerührt wird, spricht er Schottisch. Mein neuester Spitzname für ihn (hinter seinem Rücken) ist Sandy.
    Während ich schreibe, sitzt Sadie Kate auf dem Boden, entwirrt Nähseide und wickelt sie sauber wieder auf, — für Jane, die geradezu eine Zuneigung für den kleinen Kobold gefaßt hat.
    „Ich schreibe an deine Tante Judy“, sagte ich zu Sadie Kate, „was soll ich ihr von dir ausrichten?“ „Ich habe nie von einer Tante Judy gehört.“
    „Sie ist die Tante von jedem braven Mädchen in dieser Schule.“
    „Sagen Sie ihr, sie soll mich besuchen kommen und Bonbons mitbringen“, sagt Sadie Kate.
    Ich sage dasselbe.
    Dem Präsidenten meine Zuneigung
    Sallie.

13. März.
    An Frau Judy Abbott Pendleton.
    Gnädige Frau!
    Ihre vier Briefe, zwei Telegramme und drei Schecks sind eingegangen, und Ihre Weisungen werden so schnell befolgt, wie es die Unterzeichnete überarbeitete Vorsteherin bewältigen kann.
    Das Eßzimmer habe ich Betsy Kindred überantwortet. Einhundert Dollar gewährte ich ihr für die Instandsetzung jenes düsteren Raumes. Sie übernahm die Aufgabe, wählte fünf brauchbare Waisenkinder aus, um bei den handwerklichen Einzelheiten zu helfen, und schloß die Türe ab. Drei Tage lang haben die Kinder an ihren Schulbänken im Schulzimmer gegessen. Ich habe keine Ahnung, was Betsy macht, aber sie hat viel mehr Geschmack als ich, also hat es nicht viel Sinn, mich einzumischen.
    Es ist wirklich eine himmlische Beruhigung, einem Menschen etwas überlassen zu können und sicher zu sein, das es auch ausgeführt wird! Mit allem nötigen Respekt vor dem Alter und der Erfahrung der Angestellten, die ich hier vorfand, — neuen Ideen sind sie wenig zugänglich. So wie das John-Grier-Heim im Jahre 1875 von seinem edlen Gründer geplant wurde, so soll es heute noch geführt werden.
    Übrigens, liebe Judy, Dein Vorschlag für ein eigenes Eßzimmer, den ich als gesellige Seele zuerst verachtete, war meine Rettung. Wenn ich todmüde bin, esse ich allein, aber in den Zwischenzeiten, in denen ich auflebe, lade ich einen der Angestellten ein, die Mahlzeit mit mir einzunehmen; und bei der behaglichen Intimität des Eßtisches erziele ich meine besten Erfolge. Wenn es nötig wird, die Saat frischer Luft in die Seele von Miß Snaith zu legen, lade ich sie zum Essen ein und lege taktvoll ein wenig Sauerstoff zwischen ihre Scheiben Kalbfleisch. Kalbfleischscheiben sind das Ideal unserer Köchin als pièce de résistance für eine Abendeinladung. In einem Monat werde ich die Frage geeigneter Ernährung für die leitenden Angestellten anpacken; einstweilen gibt es so viel wichtigere Dinge als unser Wohlbefinden, daß wir uns weiter mit Kalbfleisch durchschlagen müssen.
    Gerade bumpert es fürchterlich vor meiner Türe. Ein kleiner Engel scheint einen anderen kleinen Engel mit den Füßen die Treppe hinunterzustoßen. Aber ich schreibe weiter. Wenn ich meine Tage zwischen Waisen verbringen soll, muß ich eine fröhliche Distanz pflegen.
    Hast Du die Karten von Leonora Fenton bekommen? Sie heiratet einen Missionsarzt und zieht für immer nach Siam! Findest Du es nicht auch die Höhe, daß ausgerechnet Leonora einem Missionarshaushalt vorstehen soll? Glaubst Du, sie wird die Heiden mit Kunsttänzen unterhalten?
    Aber es ist auch nicht lächerlicher als ich in einem Waisenhaus oder Du als konservative etablierte Matrone oder Marty Keene als gesellschaftlicher Schmetterling in Paris. Glaubst Du, daß sie in Reithosen auf Botschaftsbälle geht, und was um alles in der Welt wird sie mit ihrem Haar anfangen? Es kann noch nicht so bald nachgewachsen sein. Sie wird eine Perücke tragen müssen. Sind wir nicht ein Jahrgang mit recht komischen Überraschungen? Die Post kommt. Entschuldige mich, solange ich einen schönen dicken Brief aus Washington lese.
    Nicht so schön, ziemlich frech. Gordon kommt nicht darüber weg: S. McB. in Verbindung mit einhundertdreizehn Waisen bleibt für ihn ein Witz. Aber er fände es nicht mehr so witzig, wenn er es ein paar Tage lang ausprobieren könnte. Er sagt, er wird bei seiner nächsten Reise nordwärts hereinschauen und sich den Kampf ansehen. Wie wäre es, wenn ich ihm alles überließe und unterdessen nach New York stürzte, um Einkäufe zu machen? Unsere Leintücher sind schon mürbe, und wir haben nur zweihundertelf Wolldecken im Haus.
    Singapur, der einzige Hund meines Herzens und Heims, schickt seine gehorsamsten Grüße.
    Ich ebenfalls
    S.
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