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Liebe und andere Schmerzen

Liebe und andere Schmerzen

Titel: Liebe und andere Schmerzen
Autoren: Hrg. Jannis Plastargias
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denkt an Davids wütendes »Bist du etwa ’ne Lesbe?« und zweifelt daran, ob sie jemals überhaupt irgendwem erzählen kann, was sie für Anna empfindet. Wie würde Hannah reagieren? Von ihren Eltern ganz zu schweigen ... Ein leises Vibrieren schreckt sie aus ihren Gedanken auf.
    »Treffen wir uns heute Nachmittag am Felsen?«
    Olga wird rot und wirft einen verstohlenen Blick auf die andere Seite des Raumes. Anna lächelt ihr zu. Schnell wendet Olga den Blick wieder ab und konzentriert sich auf das Geschehen an der Tafel. Hannah, die neben ihr sitzt, wirft ihr einen misstrauischen Blick zu.
    Der Gottesdienst hat noch nicht begonnen, als Olga das Gemeindezentrum betritt. Sie fühlt sich unwohl, hat Angst, David über den Weg zu laufen, der wahrscheinlich auch hier ist. Schnell hastet sie zu ihren Eltern, die wie immer vorne in der zweiten Reihe sitzen.
    »Da bist du ja endlich«, tadelt sie Vater, Mutter schüttelt nur missbilligend den Kopf.
    »Kann diese Anna ihre Aufgaben nicht mal alleine machen? Ständig bist du jetzt damit beschäftigt, und für die Kirche und uns bleibt keine Zeit mehr!«
    »Jaja, es sind halt schwierige Aufgaben, und wir müssen das für die Prüfungen lernen ...«, entschuldigt sich Olga mit schlechtem Gewissen.
    Das Lügen liegt ihr schwer im Magen, aber sie traut sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Der Gottesdienst beginnt. Dankbar fügt sie sich in das wöchentliche Ritual aus Gesang, Gebet, Lesung, wieder Gesang. Mal stehend, mal sitzend. Sie kennt alle Lieder und alle Gebete, hat sie schon als Kind mitgesungen und mitgesprochen. Entspannt lauscht sie den vertrauten Klängen der Kirchenlieder, lässt sich von ihnen davontragen, denkt an nichts. Die Leere in ihrem Kopf ist wohltuend, und Olga versucht so lange wie möglich an ihr festzuhalten. Sie hört Ewald predigen, wie immer redet er sich langsam warm, bis er zum Höhepunkt seiner Predigt kommt – alle hängen an seinen Lippen, auch Olga, doch seine Worte lassen sie jäh aus ihrem Entspannungszustand erwachen:
    »... denn hört, was Paulus den Römern schreibt: Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers. Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. Lasst euch das, liebe Gemeinde, als Warnung sein, und bleibt auf dem rechten Pfad, sonst werdet ihr das Reich Gottes nicht erben!«
    Laut hallen seine Worte in Olgas Kopf wieder.
    Verstört nimmt sie den Applaus und die zustimmenden Rufe der Gemeinde wahr, das abschließende Gebet und ein letztes Lied, das alle lauthals mitsingen. Olga spürt den Boden unter sich schwanken, ein leichtes Schwindelgefühl befällt sie, und für einen Moment bleibt sie sitzen, während ihre Eltern schon aufstehen. Niemand hier fühlt sich von dieser Warnung Ewalds angesprochen, nur ihr allein gilt sie, dessen ist sie sich sicher.
    »Was ist los, Olga?«, fragt Mutter. »Nichts...«, nuschelt Olga und steht nun doch auf.
    Mit gesenktem Kopf folgt sie ihren Eltern Richtung Ausgang. Als sie an der Tür Ewald die Hand gibt, vor Scham aber an seinem freundlichen, gütigen Gesicht vorbei sieht, erblickt sie David, der im Hof steht und auf seine Familie wartet. Er wirft ihr einen abschätzigen, wissenden Blick zu. Lesbe! Widernatürliche Verirrung! Du wirst deinen Lohn dafür erhalten! Olga schaudert zusammen, eilt ihren Eltern hinterher, ohne sich noch einmal nach David umzudrehen.

    »Olga! Telefon für dich!«
    Scheiße. »Wer ist es?«
    »Hannah!«
    Puh ... »Ich komme ...« Stöhnend wälzt sie sich vom Bett, und stolpert die Treppe herunter.
    »Ja?«
    »Hey, wie geht’s dir? Warst heute ja nicht gerade gut drauf ... Ist alles okay?«
    »Ja, alles bestens. Wieso?«
    »Naja, ›alles bestens‹ kannst du deiner Oma erzählen. Man sieht dir aus zehn Meter Entfernung an, dass eben nicht ›alles bestens‹ ist! Ich mach mir langsam Sorgen, Olga!«
    »Brauchst du nicht ...«
    »Ist es wegen David?«
    Genervtes Aufseufzen.
    Warum denken immer alle, es sei wegen David?!
    »Herrgott, nein! David ist mir völlig schnurz! Die Sache mit ihm ist abgehakt!«
    »Oh ...« Damit hat Hannah nicht gerechnet. »Wer ist es dann? Du bist doch in irgendjemand
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