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Lesereise Kanarische Inseln

Lesereise Kanarische Inseln

Titel: Lesereise Kanarische Inseln
Autoren: Claudia Diemar
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Zimmerflucht mit eigenem Bad bezog. Genau wie der Schweizer Matrose war auch Unamuno von Fuerteventura zunächst alles andere als angetan. »Wie ein Skelett, das auf dem Meer treibt« erschien ihm die Insel. Um diesem Eiland einen Reiz abzugewinnen, müsse man »in einem Totenschädel einen schönen Kopf erkennen können«.
    Doch dann geschieht etwas Eigentümliches. Unamuno wird vom »Fuerte-Virus« erfasst, jener Liebe auf den zweiten Blick, die Reisende noch heute in den Bann schlägt. Der Literat findet auf dem Wüsteneiland nie gekannte innere Ruhe, die einen Schaffensrausch freisetzt. Unamuno schreibt täglich, ohne Unterlass, Seite um Seite, produktiv wie niemals zuvor. »Fern der Zeit und ihrer grausamen Zumutungen« fühlt er sich plötzlich. Was als Strafe gedacht war, erweist sich als persönlicher Gewinn. Das Leben ist ein einziger Urlaub: »Morgens werde ich, einem Neugeborenen gleich, von der Sonne auf die Stirn geküsst, kaum dass sie dem Meer entstiegen ist.«
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Die Sonne ist Fuerteventuras stärkstes Kapital. Dreitausend Stunden im Jahr brennt sie vom Himmel. Hunderttausende von Touristen wollen von ihr alljährlich geküsst werden wie einst Unamuno. Für das Versprechen dieser zuverlässigen westafrikanischen Sonne nehmen die Urlauber den ewigen Wind und die skelettöse Dürre der Insel ebenso hin wie die Steinwüsten riesiger Hotelanlagen und Appartementkomplexe.
    »Verbrannter Berg« lautet die Übersetzung des Namens der Montaña Quemada, an deren Flanke sich ein grottenhässliches Monument für Unamuno findet. »Vulkanruine, die du dieser Berg bist, so abgemagert durch den Durst, dass selbst die Trostlosigkeit (davor) in Stummheit versinkt«, kommentierte Unamuno das Konglomerat aus porösem Gestein und staubiger Erde. Unamuno, der erste Langzeiturlauber auf Fuerteventura, erlebte die Insel bereits so abgezehrt, wie es auch heutige Reisende tun.
    Aber Fuerteventura soll einmal ganz anders ausgesehen haben. Die Geschichte der Ureinwohner liegt weitgehend im Dunkeln. Schriftliche Zeugnisse haben sie nicht hinterlassen, wohl aber Petroglyphen in Form menschlicher Füße am Monte Tindaya. Die Phönizier nannten Fuerteventura »Purpurinsel«, denn hier fanden sie ein kostbares Handelsgut: die Färberflechte Orchilla, mit der sich Stoffe in ein sattes Rot tönen ließen. Wirklich »entdeckt«, also von fremder Macht angeeignet, wird die Insel erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts durch die Konquistadoren. Im Auftrag der spanischen Krone
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erobert der normannische Adlige Jean de Béthencourt die Schwesterinseln Lanzarote und Fuerteventura. Zur Entourage der Besatzer gehören auch schriftkundige Geistliche, die penibel protokollieren, wie das bislang unbekannte Terrain aussieht. Die Chronisten berichten von hoch aufragenden Palmenhainen, von fruchtbaren Feldern, von guten Quellen und breiten Flüssen. Erst mit dem Abholzen großer Bäume, mit der Überweidung durch Tausende von Ziegen beginnt der unaufhaltsame Prozess der Desertifikation. Zweiundvierzig Prozent der Landfläche des kanarischen Archipels ist von Verkarstung akut bedroht. Fuerteventura aber ist zu sechzig Prozent von dieser Verwüstung gezeichnet.
    »Fuerteventura ist ein typisches Beispiel für eine von Menschen gemachte Desertifikation«, sagt Andreas Caliman, ein Deutscher, der seit sechzehn Jahren auf der Insel lebt. Der ehemalige Journalist bringt als »Fuertescout« interessierte Reisende in Kontakt mit der Natur der Insel. Man sieht ihre Wunder nicht beim flüchtigen Blick aus dem Autofenster. Man muss anhalten, aussteigen, zu Fuß gehen. Dann entdeckt man den seidenhaarigen Goldstern, die Jandía-Wolfsmilch, das Tausendblatt – allesamt Überlebenskünstler in der Wüste.
    Das Wunderkraut schlechthin unter der Inselflora ist die Kristallmittagsblume, die sich als Bodendecker in den sandigen Untergrund krallt. Betrachtet man sie aus der Nähe, so wirken ihre bis zum Platzen mit Wasser angefüllten Zellen wie glitzernde Juwelen. »Eiskraut« wird die Pflanze wegen der schimmernd-kristallinen Zellstruktur auch
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genannt. Ein Zweiglein davon kann tagelang unbeschadet unter stechender Sonne im Auto liegen. Die Pflanze atmet nur in der Kühle der Nacht. Sie lagert zudem Salz ein, um damit Wasser an sich zu binden. Wochen dauert es daher, bis ein abgebrochener Trieb welkt. Die Einheimischen nennen die Kristallmittagsblume barilla . In vorindustrieller Zeit diente sie als natürliches »Sodakraut« zum Seifensieden und als
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