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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried
Autoren: Exerzierplatz
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haben, hier, wo man sich nur begrüßt und verabschiedet und immer in Eile ist, bestimmt hat auf dieser Waage noch niemand sein Gewicht geprüft, und ich will nicht der erste sein. Die Süßigkeits-Automaten haben sie regelrecht ausgeweidet, da hängen sogar die Drähte heraus. Lieber möchte ich aus der Kiesgrube Sand karren als auf diesem Bahnhof arbeiten, auch Torfstechen möchte ich lieber oder drainieren oder noch einmal Steine vom Land sammeln wie damals, zusammen mit ihm. Nichts wiederholt sich, Bruno, hat der Chef gesagt und hat dagelegen wie unter einem Gewicht. Wenn ich ihm nur helfen könnte.
    Ich werde gesehen, ich spüre genau, daß mich hier einer von irgendwoher anstarrt, nicht vom öden Bahnsteig, nicht von der Eingangstür, dicht hinter mir sitzt er in seinem verglasten Fahrkartenschalter bei halb zugezogenen Vorhängen. Vielleicht fühlt er sich gestört durch meine Nähe, Bohnsack, der alte Bohnsack, den keiner anders erlebt als raunzend und verdrossen, und von dem Max einmal sagte: der geborene Feldwebel. Was lungerst du denn hier rum? fragt er und sieht mich abschätzig an aus seinen wäßrigen Augen, und ganz leise murmelt er: Schwachkopp. Ich darf hier doch wohl stehen? Klar, sagt er und grinst, klar, aber nicht vor dem Schalter, hier darf nur stehen, wer eine Fahrkarte erwerben will; das begreifst du doch? Sein Grinsen, sein verkniffenes Gesicht – der sieht so aus, als ob er auf einen Schlag alt geworden ist, über Nacht. Oder willst du etwa eine Fahrkarte kaufen? fragt er und amüsiert sich über seine Frage und stellt fest: Man braucht nämlich Geld dazu. Ich will nicht mit ihm sprechen, doch ich frage schon: Wieviel? Tja, sagt er, das kommt ganz darauf an, wohin der Herr reisen möchte. Nach Schleswig, sage ich, geben Sie mir eine Fahrkarte nach Schleswig. Wie verdutzt er mich anguckt, er weiß jetzt gar nicht, was er machen soll, der geborene Feldwebel. Ein Zwanziger müßte wohl genügen. Hier ist das Geld, sage ich und lege den Schein auf den Drehteller und streiche ihn glatt. So ungläubig hab ich ihn noch nie erlebt, doch er fängt sich, grinst achselzuckend, warum nicht, greift eine Fahrkarte, als ob er sich auf einen Spaß einließe, warum nicht, legt die Karte auf den Teller, schwupp, nicht das Wechselgeld vergessen, dann wünsch ich gute Reise.
    Ich darf die Fahrkarte nicht knicken, meine erste Fahrkarte, die ganz warm wird in der Hand.
    Hoi, Bruno, was ist denn mit dir los, sagt Marion und zeigt auf die Schwingtür, die ich wohl zu heftig aufgestoßen habe; das Päckchen liegt bereits auf dem Tresen. Es ist schön geworden, sage ich, der Chef soll nicht gleich erraten, was drin ist, erst soll er es auspacken und sich beim Auspacken freuen. Ich möchte gleich bezahlen. Warum sieht sie mich so seltsam an, warum fragt sie abermals: Ist was mit dir, Bruno? Mit mir ist überhaupt nichts, ich will nur bei uns oben sein vor der Dunkelheit. Keine Frikadelle, keine Limonade? Nichts, sage ich, heute mal nicht, und sie darauf: Du bist doch nicht krank, Bruno?
    Schnell über die Gleise, an den neuen Verbotsschildern vorbei. Das Grün dunkelt sich schon ein. Alles wird stiller in der Dämmerung, zieht sich zusammen und buckelt sich auf für die Nacht. Bei manchem Schritt gluckert es im Päckchen, das gern verschnürt sein könnte mit einem farbigen Band. Schon torkeln die ersten Fledermäuse über dem Geräteschuppen. Du brauchst nicht zurückzusehen, hat er gesagt, geh immer nur weiter, Bruno, bis du deinen Hügel erreicht hast. Das hat er gesagt. Ich werde gleich traurig, wenn ich an ihn denke, wenn ich ihn auf seinem Lager sehe, wortlos und wie bezwungen von allem und nicht bereit, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht glaubt er, daß seine Zeit vorbei ist, das kann sein; vielleicht glaubt er auch, daß es für ihn keinen neuen Anfang gibt, weil sich die Freude nicht wiederholen läßt und das Zutrauen der frühen Jahre. Diese Morgen damals, diese Morgen voll Ungeduld und Eifer, das weglose, vernarbte Land, das auf uns wartete und uns jeden Abend mit zufriedener Erschöpfung entließ – solch ein Anfang, meint er gewiß, wird uns nur einmal gegeben. Das Päckchen, das werde ich ihm noch verschönern, gewiß wird im Karton ein farbiges Band sein, im alten Schuhkarton, unter all den gesammelten Schnüren.
    Ich brauch wohl nicht abzuschließen, nicht für diesen Augenblick, es genügt, wenn ich den Riegel vorlege, heute genügt es. Wie sich alles beruhigt, wenn ich zuhause bin – sobald
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