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Lebensabende & Blutbaeder

Lebensabende & Blutbaeder

Titel: Lebensabende & Blutbaeder
Autoren: Manfred Rebhandl
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hier sein. Stirbt er nämlich nicht an den Verletzungen, so wird er halt an der Kälte zugrunde gehen.
    Der Schlevsky beobachtet, wie sein Blut langsam über die Kautschukunterlage (auch er war nicht mehr ganz sicher während der Nacht!) auf den herrlichen Bettvorleger läuft und schließlich dem ehemals stolzen und blutrünstigen, heute ausgestopften Tiger aus der Walachei in sein weit aufgerissenes Maul hineintropft. Der eine Tiger, weiß der Schlevsky, ist nun beinahe so tot wie der andere. Bald werden sie beide vereint sein in den Himmeln der Ewigkeit.
    „Ivana!“
    Nichts.
    „Herrgott Ivana! Hilf mir wenigstens aus der Scheiß-Unterhose heraus!!!“
    Nichts.
    „Du rote Sau!“
    Nichts. Nicht einmal ein leises höhnisches Kichern aus irgendeiner Ecke hört er, von wo aus sie sein unwürdiges Verenden beobachten würde. Dann halt:
    „Jocelyn!“
    Wieder nichts.
    Traurig klingt der Schrei des Tigers, und voller Wehmut erstickt er. Dass er so einsam sterben muss im eigenen Blutbad! Keine Hand weit und breit, welche die seine halten könnte. Keine zärtlichen Finger, die ihm das Haar aus der Stirn streichen. Keine Augen, die ihn tröstend anlächeln würden. Und am schlimmsten: Keine warme Stimme, die ihm versichert, dass er nicht alles falsch gemacht hat in seinem Leben, alles nicht.
    Vielleicht, überlegt er nun, da ihm die Tränen der Erinnerung in die Augen steigen, vielleicht ist ihm sein größter Fehler überhaupt schon viel früher passiert, damals, als er weggegangen ist aus Furzenbüttel?
    Und in der Stunde seines Todes denkt er plötzlich an die Frau, die ihm letztlich von allen am nächsten gestanden war, und aus dem Meer seiner Erinnerungen taucht noch einmal der Ort seiner wunderbaren Kindheit auf. Er sieht den Frisiersalon seiner Mutti in der Hamburger Erhardstraße, und als er sich zur Seite dreht und die Augen schließt, atmet er plötzlich die unvergleichlichen Düfte ihres Ladens, den Geruch des Haarwassers, des Rasierwassers, der Haarsprays, und in Gedanken schmiegt er sein Gesicht noch einmal in den gestärkten Friseurmantel seiner Mutti, während er sich an ihr Bein klammert und unter ihrem Mantel Schutz sucht. Dann hört er noch einmal den hellen Klang des Türglöckchens, und er sieht die alten Männer, die immer zum Gruß ihren Hut hoben, sobald sie eintraten.
    „’Tach Frau Schlevsky“, sagten sie. Und dann zu ihm:
    „Na Rudi, du kleiner Hosenscheißer, alles klar bei dir?“ Dann beugten sie sich zu ihm herunter, zogen ihn launig am Ohr und steckten ihm einen Pfennig zu oder zwei.
    Als der Schlevsky an das satte, einfallende Sonnenlicht denkt, das sich während der warmen Sommertage stets im Glas der Eingangstür brach, kann er beinahe noch einmal die feinen Haare sehen, die der Windhauch durch den Laden wehte, wenn ein neuer Kunde ihn betrat. Und dann hört er leider auch wieder diese Scheiß-Operettenmusik, die seine Mutti immer spielte und ohne die er vielleicht wirklich Friseur geworden wäre und sich das alles hier erspart hätte:
    „Wiener Bluuuuuhhht Wiener Bluuuuhhhhut! Dadadadam dadadam dadam dadam!“
    Diese schwulen Operetten! Er wäre nie fortgegangen aus Furzenbüttel, wenn er nicht immer diese Zuckerscheiße hätte hören müssen und seine Mutti ...
    „Mutti?“
    Nach all den Jahren, während der er keinen Furz lang an sie gedacht hat, hegt er plötzlich zärtliche und warme Gefühle für seine Mutti, und er ist ihr trotz allem dankbar, dass sie ihm das Leben geschenkt hat. Denn auch wenn er jetzt mitten in der Zielkurve zu verrecken droht, so war es doch ein wunderschönes und erfülltes Leben. Und jetzt, da es nicht mehr lange dauern wird und sich schon die Glasglocke der ewigen Ruhe über ihn stülpt, jetzt tröstet ihn die Erinnerung daran, wie wunderbar friedlich es immer war in ihrer Straße nach dem getanen Werk des Tages, wenn ganz Furzenbüttel zu Hause vor dem Fernseher saß und auch er mit seiner Mutti die „Wünsch Dir Was!“-Show schauen durfte. Er denkt an die Männer, die vor ihren Häusern standen, HB rauchten und Bier tranken und sich über den HSV unterhielten. Keine Operettenmusik war mehr zu hören, wenn die Nacht sich über Furzenbüttel legte und Mutti zu ihm an sein Bettchen trat. Sie beugte sich über ihn und zog ihm die Pyjamahose an. Dann zog sie ihm das Deckchen herauf bis zum Kinn und zeichnete ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn, das ihm Mut machen sollte, wenn die Angst vor der dunklen Nacht ihn übermannte.
    Sie sagte: „Die
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