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Leben Ist Jetzt

Titel: Leben Ist Jetzt
Autoren: Anselm Grün
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dir fließt sie dahin, wie eine Sanduhr, lautlos. Manchmal hör' ich sie rinnen,
     unaufhaltsam; und ich steh' auf, mitten in derNacht und lass die Uhren alle stehen.“ Uhren kann man anhalten, die Zeit läuft
     weiter.
    Älterwerden hat mit dieser besonderen Erfahrung zu tun. Wir haben das Gefühl, dass die Zeit zwischen unseren Händen zerrinnt, dass sie „abläuft“, dass
     uns immer weniger Zeit zum Leben bleibt. Manchen macht diese Erfahrung der begrenzten und endlichen Zeit Angst. Die einen reagieren panisch und wollen die
     Wirklichkeit nicht wahr haben. Sie versuchen, die Spuren der Zeit zu vertuschen, indem sie Cremes benutzen, die die Falten glätten oder indem sie ihre
     welkende Haut liften lassen. Andere stürzen sich in Hektik und Betriebsamkeit. Sie möchten die Zeit, die ihnen bleibt, möglichst intensiv nutzen und
     stopfen alles Mögliche in sie hinein. Und sie haben doch den Eindruck, dass ihnen die Zeit davon läuft, immer schneller und unaufhaltsam. Die Zeit wird
     dann zum Gegner, mit dem sie kämpfen. Doch das ist nicht der Umgang mit Zeit, den uns Jesus empfiehlt oder zu dem uns die griechische Philosophie
     einlädt.

    Die Griechen haben ihre Erfahrung mit der Zeit in einen Mythos gefasst. Durch die Erzählung verdeutlichen sie einen beängstigenden
     Aspekt dessen, was – bis heute und in jedem einzelnen Leben erfahrbar – für uns das Geheimnis der Zeit ist: Zeit als eine verschlingende
     Macht. Dieser alte Mythos erzählt uns vom Urgott, dem Chronos. Er hat seine Kinder aufgefressen aus Angst, sie könnten ihm die Herrschaftstreitig machen. Doch seine Frau Rhea überlistet ihn. Als Chronos Zeus geboren hat, wickelte sie einen großen Stein in die Windeln. Als
     Chronos diesen Stein aß, konnte ihn Zeus überwinden. Wir sprechen heute noch vom Chronometer, vom Zeitmesser. Das ist die quantitativ gemessene Zeit, die
     immer zu wenig da ist, die Zeit, die uns auffrisst, und die Zeit, die wir als Gegner erleben.
    Aber das ist nicht die ganze Weisheit der Griechen zur Erfahrung der Zeit. Sie kennen auch noch ein anderes Wort für Zeit: kairos, die angenehme Zeit,
     die Gelegenheit und Chance ist. Jesus spricht – in der Tradition dieses griechischen Verständnisses – immer vom kairos, von der angenehmen
     Zeit, von der erfüllten Zeit. Es ist die Zeit, die uns geschenkt ist und die wir genießen dürfen. Ob wir die Zeit als chronos oder kairos erleben, hängt
     von uns und unserer Einstellung zur Zeit ab. Wenn wir ganz im Augenblick, im Jetzt, leben, dann nehmen wir die Zeit als angenehme Zeit wahr, als kairos,
     als Zeit, die uns geschenkt ist. Wir spüren etwas vom Geheimnis der Zeit, die wir nicht festhalten können, die aber im Augenblick uns gehört. Wir atmen in
     der Zeit, wir fühlen in der Zeit. Wir bekommen ein Gespür für die Zeit.
    Das Älterwerden wird uns nur gelingen, wenn wir in diesem Sinn Zeit bewusst erfahren und unsere Beziehung zur Zeit bedenken.
Leben – eine lange Zukunft, oder eine kurze Vergangenheit?
    Es heißt, vom Standpunkt eines Kindes aus gesehen sei das Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alters aus eine sehr
     kurze Vergangenheit. Sicher ist: die Erfahrung von Zeit ändert sich im Verlauf des Älterwerdens. Kinder können es kaum erwarten, bis Weihnachten wird. Für
     sie dauert die Zeit länger. Wenn sie an ihren nächsten Geburtstag denken oder gar an den Abschluss ihrer Schulzeit, dann haben sie den Eindruck, dass das
     unendlich weit weg ist. Sie können sich das oft gar nicht vorstellen. Ältere Menschen haben ein anderes Zeitgefühl. Sie sagen: „Schon wieder ein Jahr
     vorbei. Es ist schneller vorbeigegangen, als man denkt.“ Warum Kinder und alte Menschen die Zeit so verschieden wahrnehmen, darüber kann ich nur
     spekulieren. Kinder haben die Zeit noch vor sich. Sie möchten ihr Leben leben. Sie sind ganz und gar auf die Zukunft ausgerichtet. Kleine Kinder sind ganz
     im Augenblick. Aber sobald sie die Zeit wahrnehmen und sich bewusst machen, leben sie im Blick auf die Zukunft, auf den kommenden Urlaub, auf ein
     besonderes Fest. Sie erwarten von dem künftigen Ereignis eine Steigerung ihres Lebens. Dabei hängt diese Erwartung davon ab, dass sie etwa den Geburtstag
     oder Weihnachten schon einmal als wunderbare Feste erlebt haben. So sehnen sie sich danach, dass dieses Fest wiederkommt. Und die Zeit
     des Wartens wird ihnen leicht zu lang.

    Alte Menschen haben viel Vergangenheit hinter sich. Sie haben viel erlebt. Oft
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