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Leben Ist Jetzt

Titel: Leben Ist Jetzt
Autoren: Anselm Grün
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mich eine Flucht vor der Einmaligkeit des Lebens. Anstatt bewusst und intensiv zu leben, vertröste ich
     mich, ich hätte ja nochmals eine Chance, es besser zu machen. Doch die andere Seite der Reinkarnationslehre übergeht man dann, nämlich die, dass durch das
     im Hier und Jetzt ungelebte Leben ein negatives Karma das künftige Leben erschweren soll.

    Mir ist eine andere Alternative sympathischer: wenn Menschen die Einmaligkeit ihres Lebens als Einladung verstehen, ihr einzigartiges
     Leben bewusst zu leben und es auszukosten, es in allen seinen Facettenwahrzunehmen und es, hier und heute, in jeder Lebensphase, zu
     gestalten. Ich lebe nur einmal. Das ist auch eine Herausforderung, dieses eine Leben so gut zu gestalten, wie es mir möglich ist. Die Kunst, das einmalige
     Leben bewusst und intensiv zu leben, beginnt nicht mit dem Eintritt ins Alter. Vom ersten Tag an, seit unserer Geburt werden wir mit jedem Tag
     älter. Daher besteht die Kunst des Lebens eben in dieser Kunst des Älterwerdens: darin, sich dem inneren Wandlungsprozess des Lebens zu überlassen. Das
     Ziel der Verwandlung ist, dass wir mehr und mehr in die einmalige und einzigartige Gestalt hineinwachsen, die Gott uns zugedacht hat.

    Die Kunst des Älterwerdens besteht darin, in allen Erlebnissen unseres Lebens, auch in allen Dissonanzen, nach der eigenen Melodie zu
     suchen, in der sich die Spannungen auflösen, die wir in uns wahrnehmen. In dieser Kunst des Älterwerdens können wir uns ein Leben lang üben, sie fängt
     nicht erst mit der Pensionierung an. Im Blick auf das Alter stellen sich nur verschärft die Fragen, die eigentlich für das ganze Leben gelten. Wir leben
     ja schließlich nicht, um jung zu bleiben, sondern um alt zu werden.

    Erich Fromm vergleicht unsere Aufgabe im Leben mit einer Geburt. Unsere Aufgabe ist es, ganz geboren zu werden. Leonardo Boff hat
     dieses Bild aufgegriffen, wenn er in einem Text zu seinem eigenen 70.Geburtstag schreibt: „Das Alter ist die letzte Etappe menschlichen
     Wachsens. Wir werden ganz geboren, aber wir sind nie fertig. Wir müssen unsere Geburt vollenden, indem wir unsere Existenz verwirklichen, Wege öffnen,
     Schwierigkeiten überwinden und unseren Lebensweg formen. Wir sind immer im Werden. Wir beginnen mit dem Geborenwerden. Wir werden im Laufe unseres Lebens
     in Raten weiter geboren, bis wir unsere Geburt vollenden. Dann treten wir in die Stille ein. Und wir sterben. Das Alter ist die letzte Gelegenheit, die
     uns das Leben bietet, um das Wachsen, Reifen und schließlich das Geborenwerden zu vollenden.“ Das Älterwerden ist Teil dieses ganzheitlichen
     Lebensprozesses.

    Dies ist kein Buch über das Alter. Ich möchte im folgenden keine medizinischen Einsichten, aber auch keine systematische Beschreibung
     des Altwerdens geben. Vielmehr möchte ich auf Fragen eingehen, die sich uns beim Älterwerden stellen. Es sind Fragen, die mich in Gesprächen mit Menschen
     berührt haben und die sich dem eigenen Älterwerden gestellt haben. Ich kann natürlich keine letztgültigen Antworten geben. Ich möchte nur versuchen, so zu
     antworten, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, für Ihren eigenen Prozess des Älterwerdens in sich einen Weg entdecken, der Sie durch alle Etappen Ihres
     Lebens zum wahren Leben führt, zum Leben, das auch durch den Tod nicht zerstört werden kann.

1. Wie die Zeit vergeht
    Z eit ist Leben. Unser Älterwerden ist auch davon bestimmt, dass wir zu spüren glauben, wie die Zeit
     vergeht. Wie das Verrinnen des Sandes in Sanduhr wird es uns bewusst. Mit zunehmendem Alter empfinden wir das Tempo, in dem die Zeit vergeht, als sich
     steigernde Geschwindigkeit: „Die Zeit fährt Auto“, hat Erich Kästner gedichtet. Wenn wir plötzlich Freunde der Kindheit oder der Jugend wiedertreffen und
     sehen, wie sie sich verändert haben und wie die Zeit ihre Spuren in ihre Gesichter eingegraben hat, dann wird uns – im Spiegel der anderen –
     bewusst, dass auch an uns die Jahre nicht spurlos vorübergegangen sind. Hugo von Hoffmannsthal, der das Libretto zur Oper „Der Rosenkavalier“ geschrieben
     hat, hat viel über dieses Thema der vergehenden Zeit nachgedacht. „Die Zeit“, sagt die Marschallin im Rosenkavalier, „die ist ein sonderbares Ding. Wenn
     man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Dann, auf einmal, spürst du nichts als sie; sie ist um uns herum und ist in uns drinnen. In den Gesichtern
     rieselt sie, in dem Spiegel da rieselt sie, und zwischen mir und
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