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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
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seit der Antike uneingeschränkt wahr ist. Leben, das festgehalten wird, verkümmert und stirbt ab. Leben, das sich hingibt und ausgibt, wird weiter, schöner, reifer. Was aber bedeutet Wandlung?
    Viele sprechen eher von Veränderung. »Ich sollte mein Leben ändern, bevor es zu spät ist«, »mich selbst verändern«, »meine Persönlichkeit verändern«. So, als ob alles von uns selbst abhängt und machbar ist. Wenn wir ehrlich sind, stellen wir ohnehin fest, dass wir nicht aus unserer Haut können, dass selbst ein Nächster uns kaum wirklich grundlegend ändern kann. Dieser Anspruch, wenn er ausschließlich auf die eigenen Gedanken, Aktivitäten, Anstrengungen und Planungen zentriert ist, wird Gefahr laufen, sich in ständigen Anstrengungen und Wiederholungen leerzulaufen. Wandlung ist zwar auch nicht mühelos, aber im Kern ist sie eher ein Lassen als ein angestrengtes Tun. Deshalb ist der Versuch, um jeden Preis jung zu bleiben, nicht nur unklug, sondern auch schade und leidvoll, weil wir den Fluss des Lebens ohnehin nicht aufhalten können.

    Innere Verwandlung geschieht leise, fast unmerklich. »Es ist niemals zu spät, sich mit der eigenen Seele zu beschäftigen«, sagte Epikur. Allein schon dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle, Sehnsüchte, Wünsche, Licht- und Schattenseiten richten und wahrnehmen, was wir bis dahin nicht beachtet haben verwandeln sie sich. Ich spreche nicht von der kontrollierenden Selbstbeobachtung, sondern vom Annehmen und Wahrnehmen innerer Seelenanteile, Bilder, Träume, unausgesprochener Wünsche und Sehnsüchte. Schließlich offenbart sich vielleicht, worin die Verwandlung liegt. Es wird mehr sein als der abstrakte Sinn dieses Lebens. Es wird konkret, weil es der Sinn des eigenen Lebens ist, der plötzlich aufleuchtet. Von Marc Aurel, dem letzten Stoiker der alten Welt, stammt der treffende Satz: »Von dir selbst hängt es ab, ein neues Leben zu beginnen. Betrachte die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bislang gesehen hast. Das nämlich heißt: ein neues Leben beginnen.«
    Was heißt nun, die Dinge von einer anderen Seite anzusehen? Vielleicht gehört dazu, dass wir uns von hinderlichen, überholten Vorstellungen über das Älterwerden befreien, dass Alter ein Ruhekissen sei, dass wir starrsinnig, bedürftig und vergangenheitsorientiert werden. Sich neu ausrichten heißt, dass wir uns nicht in allgemeinen, fraglosen Orientierungen an fantasielose Altersregeln halten, sondern endlich das tun, was wir selbst für richtig halten, und eigene Fantasien und Werte ernst nehmen ohne Anpassungsdruck, Karrieredruck und Erfolgszwang. Endlich die Person sein, die man ist, und nicht diejenige, die man in den Erwartungen der anderen sein sollte. »Sich in sich selbst zu Hause fühlen«, so beschrieb es eine Kollegin treffend. Darauf pfeifen, was das frühere Altersbild an Verboten aufstellte gegenüber Dingen, die man in einem gewissen Alter »nicht
mehr machte«. Statt im Leistungskarussell weiter mitzurennen, dürfen wir Überblick und Weitblick gewinnen und uns mit einer Entwicklung anfreunden, die die Dinge mehr von oben, von der Seite oder darüber hinaus sieht.
    Wenn man schon nicht entscheiden kann, was das Älterwerden mit einem alles anstellt, so kann man doch immerhin entscheiden, was man mit dem Älterwerden macht. Ich spreche weder von der Propaganda für »Fit im Unruhestand«, noch vom Gegenteil »desinteressiert, asexuell, unsportlich«, beides klingt nicht gerade sehr entspannt. Es geht darum, sich die Möglichkeit offenzuhalten, im Dickicht der Allgemeinplätze den Blick auf die eigenen Sinne zu schärfen. Gesunden Eigensinn zu entwickeln, der einem erlaubt, Nein zu sagen, das Dumme beim Namen zu nennen, und zu entscheiden, was man nicht mehr braucht, was das bisherige Leben erweitert, ergänzt und abrundet. Nicht im Sinne von »weiter, höher, besser«, sondern von »anders als bisher«, wie die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi schrieb. »Die Kräfte lassen nach, aber dein Blick wird weiter und weiter«, so sprach auch der Künstler Ingmar Bergman. Indem wir erkennen, was wir nicht beeinflussen können, entdecken wir Möglichkeiten, ein eigensinniges Leben zu leben. Und umgekehrt!
    Wir sind alt, wir sind frei. Wir können mit unserer Vergangenheit anstellen, was wir wollen. Sie gehört uns selbst, wir haben sie verdient. Wir können sie glorifizieren, horrifizieren, verklären, belächeln, betrauern. Ein Anspruch auf Absolution besteht nun mal nicht.
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