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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
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trennt sich leichten Herzens von Dingen, die nur einengen oder im Schaufenster gut aussehen, die kneifenden Jeans, die man nur mit der Zange anbekommt, die hochhackigen Schuhe, mit denen man sich fast die Knochen bricht, die figurbetonten Outfits mit den Spaghetti-Trägern, mit denen man sich bei jeder Brise eine Grippe fängt.
    Im eigenen Körper zu wohnen, heißt Freundschaft mit ihm zu schließen. Unser Körper, unser guter, vertrauter Freund, mit dem wir schon einen langen Weg zurückgelegt haben, hat ein gutes Gedächtnis. Darin ist alles aufbewahrt. Das Wissen, das Lachen, das Weinen, die Genüsse, die Plagen, die Anstrengungen, die Kämpfe, die Verwirrungen und Verzweiflungen, die Kränkungen und Krankheiten. Man kann in ihm lesen, ihn buchstabieren wie in einer Bibliothek und vor allem eines – ihm immer wieder danken für all das, was er ertragen, ausgetragen, geschenkt und genommen hat. Er ist die Stätte unserer Träume, der Tränen, der Fantasien, der Zärtlichkeiten, der Launen und Stimmungen.

    »Ich trage in mir alle meine früheren Gesichter wie Sedimentschichten unter meinem jetzigen Gesicht. Ich spüre alle meine vergangenen Gesichter und wundere mich, wie viel von ihnen noch vorhanden ist. Ich finde, mein Gesicht ist prägnanter, ausdrucksvoller geworden. Das ist doch auch schön. Ich lese darin, wie in einem offenen Buch«, meint eine Sechzigjährige.

Aus dem Leim gehen
    »Meine Tochter sagt, ich sähe aus wie ein Bunker«, lacht eine ältere Frau und zeigt fröhlich auf ihr zeltartiges Hängekleid. Sie trägt das Haar igelhaft kurz und witzig gefärbt. »Aber das ist doch das Schöne am Älterwerden, man lebt endlich bequemer, und sogar atmen kann man wieder.«
    In den Jahren gehen viele schlicht aus dem Leim. Ist das tatsächlich nur ein figürliches Phänomen? Eine interessante Antwort fand ich bei Hermann Schreiber, dem Journalisten, der als erster in Deutschland die Midlife-Crisis beschrieb. Er meint, dass Menschen in dieser Lebensphase außerstande sind, weiterhin Interesse an ihren hergebrachten sozialen Rollen aufzubringen. Sie »können die Kontrakte aller Art nicht mehr erfüllen, die sie in früheren Jahren unbedingt abschließen wollten.«
    Von vielen wird diese Demontage als Schwäche oder gar als Sünde ausgelegt, zumal die Sünde heutzutage von den Sexualorganen in den Verdauungsapparat gewandert ist. Man sollte sie aber im größeren Zusammenhang sehen. Unsere Rollen, die wir im Anstieg bis zum Höhepunkt unseres Lebens einnahmen, wandeln sich mit dem Älterwerden. Wir kommen nicht daran vorbei, dass vieles brüchig geworden ist und nicht mehr trägt. »Dieser Teil von uns selbst, samt den dazugehörigen Träumen und Erwartungen, muss aus dem Leim gehen, wenn die Krise bewältigt werden soll«, folgert Schreiber, »denn wer nicht ablassen mag, die Erfüllung des Lebens auch in dessen zweiter Hälfte von der Erfüllung seiner Jugendträume zu erwarten, der riskiert, dass diese zweite Hälfte nur eine pathetische Imitation der ersten und dass die Depression der midlife-crisis chronisch wird.«
    Die körperlichen Veränderungen sind also nicht Ursache, sondern Begleiterscheinungen der Lebenswende. »Es
ist der Geist, der sich den Körper formt«, erkannte Schiller. Alte Rollen müssen abgelegt werden. Wer eine Hausfrauen-Existenz lebte, sieht sich nun entlassen, weil die aktive Familienphase endet und die Kinder ausfliegen. Frauen, die immer berufstätig waren, müssen an das Ausscheiden denken und zeigen ähnliche Symptome wie Männer. Sie fühlen sich ausgezehrt, körperlich und seelisch abgenutzt. Das Budget der Karrierehoffnungen geht zur Neige, Ernüchterung wegen der unüberwindbaren Kluft zwischen Erhofftem und Realisierbarem kehrt ein. Aus den Tiefen dieser Konfusion und Orientierungslosigkeit wächst ein Hunger nach Sinnstrukturen, den viele ganz konkret körperlich beantworten, indem sie sich einen Art Panzer anfuttern, der vom Kinn bis zu den Knien reicht.
    Was tun, wenn das Nest leer ist, die Reize verfallen, die Chancen schrumpfen? Nun geht es nicht mehr darum, alles möglichst richtig zu machen, sondern um die bewusste Entscheidung zur Selbstbegegnung, des Nach-innen-Hörens. Deswegen sind Facelifting, Botox, zwanghafte Diäten oder die Beauty-Farm zu simple Lösungen, um die seelische Arbeit, die jetzt auf uns zukommt, anzugehen. Ganz zu schweigen von Vorschlägen Prominenter, wie beispielsweise von Gloria Steinem, der lediglich gesunde Ernährung, Sport und mehr
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