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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen
Autoren: Gerhard Mall
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besten Willen nicht verdrücken. Ich staune selbst. Seit dem Frühstück habe ich nichts mehr gegessen und habe dennoch keinen Hunger, nur ein wenig Appetit.
    Als ich nach weiterem Aufstieg Chazelles erreiche, gibt es dort keine gemütliche Auberge, sondern nur ein Hotel, dessen Inanspruchnahme ich mir verkneife. Es ist inzwischen halb acht. Das Tourismusbüro ist seit einer Stunde geschlossen, der Stadtplan zeigt keinen Campingplatz und ein Gewitter lauert weiter auf seine Chance, mich entgegen meinem Wunsch an meinen Schutzengel doch noch zu erwischen. Im Blumenladen neben der Information wird gerade aufgeräumt. Die schwarzhaarige hübsche Floristin bestätigt auf meine Frage: „Ja, es gibt einen Campingplatz, circa vier Kilometer in Richtung St. Symphorien.“ Als ich seufze: „Une heure en plus.“, bietet sie mir an, mich gleich hinzufahren. Ich helfe ihr, die Blumenregale vor dem Laden hineinzuschieben. Dann laden wir mein Gepäck in ihren kleinen Geländewagen. Unterwegs fragt sie mich nach dem Woher und dem Wohin und erzählt, dass sie selbst gern wandert, mit ihrem Freund in Korsika den anstrengenden Bergweg gegangen ist, dass sie in Lyon wohnt und in Chazelles sur Lyon arbeitet. Ein paar Minuten später setzt sie mich vor der Schranke des Campingplatzes ab. Ich bedanke mich herzlich und sie wünscht mir „bonnes vacances.“. „Ferien?.“, frage ich mich innerlich. Bisher hatte ich da andere Vorstellungen davon. Ich baue das Zelt auf und obwohl wieder rundherum Gewitter tätig sind, bleibe ich bis zum Schlafengehen vor wirklich heftigem Regen verschont. Ich staune, wie wenig erschöpft ich bin, körperlich zwar wohltuend müde, aber sonst noch recht fit und wach. Es ist wirklich ein guter Tag geworden, auch wenn er so schwierig begonnen hat.
     

Freitag, 8. Juni
    Zwar auch wieder erst um acht Uhr aufgewacht, aber gut ausgeruht. Es war die erste Nacht, in der ich nur eine Trainingshose und einen Pullover anhatte und nicht gefroren habe. Ich packe zusammen. Das gestern Abend gewaschene T-Shirt ist noch nass und kommt außen auf den Rucksack. Es ist schon am Morgen schwül. Die kleine Autofahrt gestern hat mich ein Stück vom GR 7 weggebracht. Da ich den Einstieg in den Wanderweg nicht finde, laufe ich versehentlich nach St. Denis sur Coise, dessen Name mich an den heiligen Dionysius erinnert, dessen Statue mit dem Kopf in der Hand im Bamberger Dom steht. Im Ort finde ich ein Café, dessen stämmige Wirtin mir nicht nur mein Stärkungsmittel gibt, sondern mir auch mit einem Briefumschlag und einem Klebestift für die Briefmarken aushilft. Die Marken schon im Voraus in Taizé zu kaufen, war zwar eine wohlgemeinte, nichtsdestoweniger aber schlechte Idee, da sie durch die Feuchtigkeit selbst im Brustbeutel alle zusammenkleben, unter Verlusten getrennt werden müssen und eine Klebehilfe brauchen, um überhaupt noch zu halten. Die Wirtin verspricht, den Brief zur Post zu bringen und ich verlasse dankbar den Ort.
    Am Ende komme ich an einem Friedhof vorbei, über dessen Eingangsportal die Worte „Heute ich - morgen du.“ stehen. Es klingt zynisch, aber es stimmt.
    Wenn ich auch hoffe, dass dieses „morgen.“ noch eine geraume Zeit lang auf sich warten lässt.
    Beschwingt geht es zunächst durch ein Tal, dann folgt ein schier endloser Aufstieg nach Coise, das ich völlig verschwitzt erreiche. Zum Überfluss kommt auf dem Weg auch noch die Sonne heraus, gleichzeitig häufen sich die blumenkohlähnlichen Gewitterwolken.
     
    Auf solchen langen Anstiegen bewährt sich, was ich schon am dritten Tag gelernt habe. Es ist besser, nicht ans Ende des Weges auf dem Hügel zu schauen, sondern auf den Boden, auf die Strecke der nächsten drei Schritte. So merke ich, dass es vorwärtsgeht. Im Angesicht der ganzen Strecke wirkt selbst das Laufen fast wie Stillstand und ist entmutigend. Ist es nicht auch im Leben so? Tun wir nicht manchmal besser daran, uns auf das Nächstmögliche zu konzentrieren als auf all die Schwierigkeiten, die vor uns liegen? Trotzdem braucht es zum Vorwärtskommen auch ein Ziel. Den Weg nach Coise hätte ich auf der richtigen Strecke auch in der halben Zeit erreichen können. Moral: Man kann sich viel anstrengen und bewegen und doch nur wenig vorankommen. Merkwürdigerweise fällt mir in diesem Zusammenhang kurz meine Arbeit ein.
    Auf einer Bank lasse ich mich von einem milden Lüftchen ein wenig abkühlen, dann geht es weiter. Nachdem der Wegverlauf etwas rätselhaft ist, genauer, es stimmt die
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