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Lanzarote

Lanzarote

Titel: Lanzarote
Autoren: Michel Houellebecq
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kaufte ich einige Zeitungen. Passion Glisse bot mehr oder weniger das Übliche. Paris-Match widmete mehrere Seiten einem Buch von Bernard-Henri Levy über Jean-Paul Sartre. Der Nouvel Observateur interessierte sich für die Sexualität Jugendlicher und für Preverts Hundertsten. In Liberation hingegen ging es wieder einmal um die Shoah, die Pficht zur Erinnerung, die schmerzliche Hinwendung zur Nazi-Vergangenheit in Schweden. Ich sagte mir, es hat sich wirklich nicht gelohnt, ein neues Jahrhundert anzufangen. Übrigens hatten wir gar kein neues Jahrhundert angefangen; das behauptete zumindest ein Linguist in der Sendung pise discute, die ich abends zuvor ge sehen hatte; der wirkliche Jahrhundertwechsel (und nebenbei auch Jahrtausendwechsel) würde erst Anfang 2001 stattfnden. Im wörtlichen Sinne hatte er ja möglicherweise
    Recht; aber es ist klar, dass er vor allem Delarue nerven woll te, den Moderator. Kalender-Mathematik bin oder her, 2000 fangt mit 2 an, das sieht jeder Mensch.
    Der Flug über Frankreich und Spanien verlief gut; ich schlief fast die ganze Zeit. Als ich aufwachte, überfogen wir die por tugiesische Küste und blickten auf eine trockene Geomor phologie hinab. Dann beschrieb das Flugzeug eine Kurve auf den offenen Ozean hinaus. Wiederum versuchte ich, mich auf den Inhalt meiner Zeitschriften zu konzentrieren. Die Sonne ging im Atlantik unter; ich dachte wieder an die Sendung vom Vorabend. Unter den Talkgästen war eine Porno-Darstellerin, die dem Jahrtausendwechsel gelassen gegenüberstand; für sie würden Männer Männer bleiben, fertig. Der Historiker hingegen billigte dem Konzept des Jahrhunderts als solchem eine gewisse Schlüssigkeit zu, wollte es aber doch im meta phorischen Sinne verstanden wissen; so war das 19. Jahrhun dert für ihn erst 1914 zu Ende gegangen. Ein linker Genetiker explodierte daraufhin: Es sei unerhört und obszön, dass im Jahre 2000 so viele Menschen auf unserem Planeten hungernd sterben müssten. Ein rechter Akademiker wurde daraufhin ironisch: Wie jeder andere auch beklage er Kriege und Hun gersnöte; allerdings komme es ihm doch recht überfüssig vor, das Schicksal der Menschheit zu verändern, solange man nicht die menschliche Natur grundlegend verändert habe; insofern stimmte er implizit der Porno-Darstellerin zu, mit der ihn ohnedies die ganze Sendung über ein gewisses Einverständnis zu verbinden schien. Da er über die jüngsten Fortschritte der Molekularbiologie nicht orientiert war, konnte er nicht wissen, dass ein solcher Eingriff (den er herbeiwünschte, aber ganz si cher für unmöglich hielt) jetzt bald realisierbar sein wird, bin nen recht kurzer Zeit. Der linke Genetiker seinerseits war na türlich auf dem Laufenden; doch als fanatischer Parteigänger politischen Handelns und der Demokratie wies er eine solche Vorstellung mit Abscheu von sich. Alles in allem, diese Sen dung versammelte wieder einmal nichts als Arschlöcher. Ich schlief weiter bis zur Landung. Wenn das neue Jahrhundert so anfängt, dachte ich, wo soll es dann bloß enden.
    Der Transfer ins Hotel war wohlorganisiert, das muss man anerkennen. Genau das würde vom 20. Jahrhundert bleiben: Wissenschaft und Technik. So ein Toyota-Minibus ist doch wirklich was anderes als eine Kutsche.

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    W as crazy techno afternoon-Feten angeht, kann Lanzarote schwerlich mit Korfu und Ibiza mithalten, und aus offenkun digen Gründen eignet sich die Insel schon gar nicht für den grünen Tourismus. Eine letzte Karte, auf die sich setzen ließe, konnte der Kulturtourismus sein – dem zahlreiche pensionier te Pädagogen und andere mittelständische Senioren huldigen. Auf einer spanischen Insel konnte man ja mangels Nachtclubs ein paar Ruinen erwarten (barocke Kloster, mittelalterliche Festungen und dergleichen). Betrüblicherweise sind diese schönen Dinge zwischen 1730 und 1732 durch eine Reihe von Erdbeben und besonders heftigen Vulkanausbrüchen samt und sonders zerstört worden. Kulturtourismus? Pustekuchen. Angesichts der schwachen Trümpfe dieser Insel ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie von einem suspekten Völk chen angelsächsischer Rentner aufgesucht wird, fankiert von gespenstergleichen norwegischen Touristen (deren einziger Daseinszweck darin zu bestehen scheint, die Legende zu be stätigen, es gebe Leute, die haben da im Januar gebadet). Wozu sind diese Norweger eigentlich nicht imstande? Die Norweger sind durchscheinend; der Sonne ausgesetzt, sterben sie fast sofort. Nachdem sie zu
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