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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht
Autoren: Agatha Christie
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gehört zu den ruhigen, beherrschten Menschen, die sehr intensiv empfinden.»
    «Ja, sie ist intensiv. Eigentlich ein sonderbares Geschöpf in mancher Beziehung…»
    «Sie hat sehr gelitten. Dann kam die Scheidung, und Nevile heiratete Kay, und allmählich überwand Audrey die Sache. Jetzt ist sie fast wieder wie früher. Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass sie die alten Erinnerungen aufzurühren wünscht?»
    «Nevile behauptet das.»
    Die alte Dame betrachtete sie beinahe neugierig.
    «Du bist so eigensinnig in diesem Punkt, Mary. Warum eigentlich? Möchtest du, dass sie hier zusammenkommen?»
    Mary Aldin errötete.
    «Nein, natürlich nicht.»
    Scharf fragte Lady Tressilian: «Oder hast etwa du Nevile diesen Floh ins Ohr gesetzt?»
    «Wie kannst du nur so etwas denken!»
    «Na, jedenfalls glaube ich keine Minute, dass es sein Einfall war. Das entspricht ihm ganz und gar nicht.»
    Die alte Dame schwieg eine Weile, dann erhellte sich ihr Gesicht.
    «Morgen ist der 1. Mai, nicht wahr? Nun, am 3. fährt Audrey nach Esbank zu den Darlingtons. Schreib ihr, sie möchte doch einmal zum Mittagessen herüberkommen.»

7
5. Mai
    Audrey Strange betrat das geräumige Schlafzimmer, schritt zum Bett, beugte sich nieder, um der alten Dame einen Begrüßungskuss zu geben, und setzte sich dann auf den Stuhl, der für sie bereitstand.
    «Nett, dich zu sehen, Herzchen», sagte Lady Tressilian.
    Audrey Strange hatte etwas seltsam Unberührbares. Sie war mittelgroß und hatte sehr kleine Hände und Füße. Ihre Haare waren aschblond, und ihr Gesicht wies sehr wenig Farbe auf. Ihre Züge zeichneten sich durch Feinheit und Regelmäßigkeit aus. Sonderbarerweise lenkte sie trotz ihrer Farblosigkeit die Aufmerksamkeit auf sich. Ein bisschen war sie wie ein Gespenst, doch vermittelte sie gleichwohl das Gefühl, dass ein Gespenst wirklicher sein könnte als manch ein lebendes Menschenwesen…
    Sie hatte eine besonders liebliche Stimme, weich und klar wie ein Silberglöckchen.
    Eine Zeit lang sprach sie mit der alten Dame über gemeinsame Freunde und allerlei Neuigkeiten.
    Dann sagte Lady Tressilian:
    «Abgesehen von dem Vergnügen, dich wiederzusehen, mein Herz, möchte ich dich etwas fragen, da ich von Nevile einen etwas merkwürdigen Brief erhalten habe.»
    Audrey schaute mit ruhigem Blick auf.
    «Ja?»
    «Nevile schlägt vor – ein ungeheuerlicher Vorschlag meiner Ansicht nach! –, dass er und Kay im September herkommen. Er erklärt, dass du mit Kay gern Freundschaft schließen würdest und dass du das Ganze für einen guten Gedanken hältst. Nun?»
    Sie wartete.
    Mit ihrer angenehmen, sanften Stimme entgegnete Audrey:
    «Ist der Vorschlag wirklich so… ungeheuerlich?»
    «Bist du tatsächlich dafür?»
    Nach leichtem Zögern erwiderte Audrey freundlich:
    «Ich finde die Idee eigentlich gar nicht so schlecht.»
    «Du möchtest also mit Kay zusammentreffen?»
    «Ich glaube, dass die Dinge dadurch vereinfacht würden, Tante Camilla.»
    «Vereinfacht!», wiederholte Lady Tressilian hilflos.
    Audrey sprach sehr sanft:
    «Liebe Tante Camilla, du warst immer so gut zu uns. Wenn Nevile es wünscht…»
    «Zum Kuckuck mit Neviles Wünschen!», unterbrach die alte Dame rau. «Es handelt sich um die Frage, ob du es wünschst.»
    In Audreys Wangen stieg ein wenig Farbe.
    «Ja, ich wünsche es.»
    «Also», sagte Lady Tressilian, «nun also…» Sie hielt inne.
    «Aber natürlich liegt die Entscheidung ganz bei dir», fuhr Audrey fort. «Es ist dein Haus, und…»
    Lady Tressilian schloss die Augen.
    «Ich bin eine alte Frau», murmelte sie. «Es ist alles sinnlos.»
    «Ich kann ja gut zu einer andern Zeit kommen, Tante Camilla. Mir würde auch jeder andere Zeitpunkt passen.»
    «Du kommst wie immer im September», entgegnete Lady Tressilian. «Und Nevile und Kay werden ebenfalls kommen. Wenn ich auch alt bin, so kann ich mich genauso gut wie andere Leute den modernen Lebensformen anpassen. Kein Wort mehr. Die Sache ist abgemacht.»
    Nach einer Weile blinzelte sie durch die Lider und fragte:
    «Na, bist du zufrieden?»
    Audrey schrak zusammen.
    «O ja. Ich danke dir.»
    «Mein Herz…» Die Stimme der alten Dame verriet echtes Mitgefühl. «Bist du auch sicher, dass du nicht leiden wirst? Möglich, dass alte Wunden wieder aufgerissen werden. Du hast doch Nevile sehr lieb gehabt.»
    Audrey blickte auf ihre kleinen Hände nieder, die ineinander verkrampft waren. Dann hob sie den Kopf. Ihre Augen waren klar, als sie zur Antwort gab:
    «All
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