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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Autoren: Renate Hartwig
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einer dieser Fälle, in denen Atteste und Gutachten Ordner füllen. Blättert man in den Unterlagen, erkennt man sehr schnell, dass es kaum um medizinisch-therapeutische Dinge geht. Es geht um Geld. Nur um Geld. »So langsam bin ich am Ende meiner Kräfte«, sagt mir die junge Frau mit leiser Stimme. Ihr Blick ist dabei leer. Sie schlägt ihre Stirn in Falten und sprudelt los: »Die Geschichte mit dem elektrischen Rollstuhl muss ich Ihnen erzählen. Zwei Jahre lang habe ich gekämpft. Zwei Jahre lang war ich eine Gefangene in meiner eigenen Wohnung. Siebzehn Gutachter habe ich hinter mir. Die Ärzte wissen nicht so recht, was sie mit dem Bein anstellen sollen. Mehrere Rechtsanwälte für Sozialrecht und das Sozialgericht haben sich mit meinem Fall befasst. Ich komme mir vor wie ein Kieselstein im Wasser, über den alles hinwegspült.« – »Aber das alles muss sich doch regeln lassen!«, wende ich ein. »Dass Sie krank sind und Hilfsmittel brauchen, das sieht doch jeder!«
    Die junge Frau lächelt, wobei ihr Mund einen bitteren Zug annimmt: »Die Unfallkasse behauptete, das alles wäre nicht die Folge des Schulsportunfalls. Meine Krankenkasse sagte das Gegenteil. Ein Gutachter widersprach der Schuldzuweisung des letzten Gutachtens. Und bevor die ganze Angelegenheit erledigt war, weigerten sich beide, Unfallkasse und Krankenkasse, den notwendigen elektrischen Rollstuhl zu finanzieren. Ich saß auf dem Trockenen. Und nicht nur das. Dieselbe Weigerung galt natürlich auch für alle Hilfsmittel und Verordnungen, die ich unbedingt brauchte. Irgendwann dachte ich, das wäre vielleicht zu klären mit einem Sprung durchs Fenster. Aber davor hatte ich Schiss. Natürlich weiß ich nicht, warum ich gestürzt bin, damals in der Turnhalle, ich habe das ja auch nicht absichtlich gemacht. Aber der Unfall fand nun einmal während des Turnunterrichts in der Schule statt. Jedem, dem ich es erzähle und dem ich die Unterlagen zeige, sagt dasselbe: Du, das ist doch eine ganz klare Sache! Ist es vielleicht auch. Bloß nicht für die Experten von Unfall- und Krankenkasse. Warum zog sich das über Jahre hin? Ich kann nur vermuten: weil es so gewünscht wurde. Erzielt man keine Einigung, na, umso besser, dann kann man sich jahrelang vor den Kosten drücken.«
    »Wie – und Sie kamen die ganze Zeit nicht aus dem Haus?«, wollte ich wissen. »Doch, irgendwann schon«, sagte die junge Frau. »Mit Hilfe von Freunden, der Familie und mit dem bisschen Geld, das ich auf meinem Sparbuch hatte, kaufte ich mir schließlich selbst einen elektrischen Rollstuhl. Weitere zwei Jahre vergingen, in denen ich zwischen immer neuen Gutachten und Attesten versuchte, wenigstens einen Teil meiner Investition für diesen Rollstuhl erstattet zu bekommen. Einer der Hauptgründe, warum er mir vonseiten der Kasse verweigert wurde, war meine gesunde rechte Hand. Ein Mensch mit einer gesunden rechten Hand brauche ja wohl keinen elektrischen Rollstuhl! Stellen Sie sich das einmal vor! Erst als ich mit Öffentlichkeit drohte, knickte die Kasse ein und hat mir jetzt das Geld für den Rollstuhl überwiesen.«
    Was sagt uns dieser Fall? Nüchtern betrachtet ist das eine einträgliche Geschichte – für das Krankenhaus, Gutachter, Therapeuten, Produzenten von Heil- und Hilfsmitteln. Nur für denjenigen nicht, der bezahlen soll: die Kasse. Bis zur Klärung eines solchen Schulsportunfalls fließt viel Wasser die Donau hinunter. Nun muss man natürlich eine gewisse Zeit ansetzen, bis man eine eindeutige Diagnose, eine klare Therapie und die geeigneten Hilfsmittel herausgefunden hat. Auch diagnostische Fehleinschätzungen kosten Zeit und Geld. Aber dann sollte doch alles getan werden, damit der Kranke, der ohnehin ein schweres Schicksal hat, gut leben kann. Die Kasse steht in der Pflicht, auch wenn der Fall für sie teuer zu stehen kommt. Dafür ist unser Solidarsystem aufgebaut, dass der Gesunde für den Kranken, der junge Mensch für den alten Menschen, der Nichtbehinderte für den behinderten Menschen eintritt. Diese ethische Komponente ist das Herzstück, aus der die Idee »Krankenkasse« entstand.
    Nun gibt es aber einen Torpedo auf diese »Idee« – das ist die Vorstellung, auch eine Krankenkasse sei so etwas wie ein Wirtschaftsunternehmen und müsse wie jede andere Firma daher in erster Linie Gewinne erwirtschaften. Hier beginnt der Umbruch. Denn laut Gesetz ist dies als Körperschaft öffentlichen Rechts (was Kassen sind) ja gar nicht möglich. Natürlich müssen
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