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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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bestätigte die Frau auf den hohen Absätzen. Stahlgraue Augen blickten auf Pilar herunter. »Ihr Messer?«
    »Wieso meins?«
    »Weil der Griff am Ende schwarz ist«, sagte Kevin. »Angekokelt. Du hast es mal auf dem Herd liegen lassen. Dein Mann war sauer, hast du erzählt.«
    »Aber wie kommt … Hab ich … hab ich das nicht weggeräumt?«
    »Nee, hast du nicht.«
    »Ich kann es doch nicht hier liegen gelassen haben«, murmelte Pilar.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Um sie herum schien alles in milchigen Nebel getaucht: Die Leute vor und neben ihr, die vier Polizisten, die gerade durch die Saaltür kamen. Das Messer liegen lassen … Das passte zu ihr. Gestern hatte sie ihr Portemonnaie beim Bäcker vergessen und ihr Handy im Keller verbummelt, vorgestern ein Fenster offen gelassen, bis Regenwasser durch die Balkendecke tropfte, und letzte Woche hatte sie die nasse Wäsche tagelang in der Maschine vergessen, sodass sie die angeschimmelten Handtücher wegwerfen musste. Wieso wunderte sie sich über die erneute Schlamperei?
    Konnte man für solche Fahrlässigkeit bestraft werden? Verhaftet, abgeführt vor allen Leuten? So ein langes, spitzes Messer … Eine geladene Pistole wäre kaum schlimmer gewesen. Schuld. Tiefe Schuld traf sie, ihr war ein Fehler unterlaufen, dessen Folgen nicht rückgängig zu machen waren.
    Sie sah es noch vor sich: Kurz nach fünf Uhr hatte sie eine Riesenpappe in drei Teile geschnitten, weil ihr bei der Generalprobe aufgefallen war, dass die Lücken zwischen den Kulissenwänden zu breit waren. Die Pappe war dick und fest, mit der Schere wäre es nicht gegangen. Deshalb hatte sie, wie immer, wenn es bei den Vorbereitungen etwas zu schneiden gab, schon morgens das schärfste Messer aus der Küchenschublade mit ins Gemeindehaus genommen – das Messer mit dem roten Griff. Das hätte noch jeder verstanden. Aber dass sie das Messer vor Beginn einer Aufführung, zu der Scharen von Zuschauern erwartet wurden, einfach im Saal zurückgelassen hatte … Wo genau war das überhaupt gewesen?
    Von draußen waren Martinshörner zu hören, Polizei- oder Krankenwagen oder beides. Ein Polizist in Motorradkleidung sprach an der Tür mit Rita.
    Pilar versuchte, sich zu erinnern. Hinter ihrer Stirn saß ein dumpfer Schmerz, als hätte ihr jemand auf den Schädel gehauen. Sie war völlig durcheinander, ihr schwindelte. Das durchdringende Geheul der Signalhörner wurde lauter, es kam ihr vor wie schrille, aufgebrachte Vorwürfe gegen sie persönlich: Du, du, Pilar! Das konnte alles nicht wahr sein. Aber natürlich war es das. Warum tat sie sich so schwer, diese Wahrheit hinzunehmen?
    Vor dem Schneiden hatte sie die Pappe vom Flur durch die Saaltür geschoben. Da lag das Messer noch in der Handwerkskiste, die in dem kleinen Raum hinter der Bühne stand. Sie war nicht so unordentlich, wie manche behaupteten. Als sie mit der Pappe die hinteren Stuhlreihen erreichte, hatte sich Kevin, der früher gekommen war als die anderen, erboten, ihr das Messer zu holen. Nicht damit rennen und die Spitze nach unten halten , hatte sie wahrscheinlich gesagt, so etwas sagte sie ja immer. Dann hatte sie die Pappe in großer Eile zurechtgeschnitten und die Teile auf die Bühne gebracht. Und das Messer?
    An der Saaltür erschienen weitere Uniformierte, hinter ihnen Männer in signalroten Jacken mit leuchtender Schrift auf dem Rücken: Notarzt. Rettungsdienst. Sie eilten mit Alukoffern und Taschen zu dem Menschenpulk hinter der letzten Stuhlreihe. Zwei Beamte stellten sich breitbeinig vor die Tür. Ein rundlicher Mann mit schütterem dunklem Haar sprach einen von ihnen an. Pilar erkannte in ihm ihren Nachbarn Winter, den sie vorher nicht gesehen hatte. Ihr fiel auf, dass er seinen Mantel über dem Arm trug und nicht wie die meisten Zuschauer an der Garderobe im Flur gelassen hatte. Der Polizist vor ihm hob die Hand und deutete in den Saal. Winter drehte sich um und rief mit blecherner Stimme durch die Menge:
    »Nichts zu machen, Evi!«
    »Das halt ich nicht aus!«, erhob sich schrill die Stimme seiner Frau. »Hier kriegt man nicht mal Kaffee!«
    Erboste Bemerkungen anderer Zuschauer, wie man jetzt an Kaffee denken könne, folgten.
    Wo, grübelte Pilar, während sie die Szene beobachtete, wo hatte sie das Messer abgelegt? Sie erinnerte sich, dass als nächste Katie gekommen war, begleitet von ihrem Bruder und ein paar Typen aus seiner Waldclique. Sie tranken im Flur irgendwas aus Dosen, argwöhnisch beobachtet von Rita, die
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