Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst
Autoren: Alexa Thiesmeyer
Vom Netzwerk:
jungen Jahren, hatte nicht mehr an seinem Platz gestanden, als das Licht anging und das Chaos ausbrach. Auch den anderen Jungen, den er aus Röttgen kannte und dessen Gesichtszüge ihn immer an einen bulligen Hund erinnerten, hatte Freddy in dem Moment nicht mehr gesehen. Hatte das etwas zu bedeuten? Wahrscheinlich waren auch andere nicht an ihren Plätzen geblieben, schon gar nicht, wer sich in der Nähe der Bluttat befand. Alle waren bestürzt und völlig durcheinander gewesen, ebenso wie er selbst, daher der Mist, den er über Pilars Disput mit der Lehrerin verzapft hatte, was in dem Stimmengewirr hoffentlich niemand registriert hatte.
    Als Freddy auf das Bonner Ufer zuging, war er sich fast sicher, dass Mick Jagger und das Hundegesicht überhaupt nicht mehr im Saal waren, als die Beamten eintrafen. Waren sie einfach abgehauen? Kein Bock auf Polizei? Die Taschen voll Gras? Oder hatten sie mit der Tat zu tun? Schlimm, wenn sie zu so einer Tat fähig wären! Nein, die Mordkommission machte sicher einen Killer ausfindig, der seine Pistole verlegt und mit Pilars Messer vorliebgenommen hatte! Was wusste man denn über Killer? Sie konnten sich mit neuen Methoden tarnen, statt Schusswaffen plötzlich Messer verwenden, am liebsten fremde. Freddy lachte ohne rechte Freude, während eine Straßenbahn an ihm vorüberratterte. Solche Gedankenspiele liebte er, aber sie führten zu nichts.
    Nach einem Glas Kölsch war ihm jetzt nicht mehr. Er schlug den Weg zum Marktplatz ein, ging am alten Rathaus vorbei, dessen Rokokofassade ihn stets an rosaweißes Zuckerwerk erinnerte, und dachte daran, wie viele Staatsoberhäupter auf der Freitreppe mit den vergoldeten Gittern gestanden und den Bonnern zugewinkt hatten, als hier noch Hauptstadtbetrieb herrschte. Er passierte das Residenzschloss und raschelte durch das welke Laub der Kastanien in der Poppelsdorfer Allee zum kurfürstlichen »Landschloss« Clemensruhe, das alle nur noch Poppelsdorfer Schloss nannten. In der belebten Clemens-August-Straße warf er kurze Blicke in gemütlich anmutende Lokale, wo noch alle Tische besetzt zu sein schienen, und folgte der ansteigenden Straße den Kreuzberghang hinauf nach Ippendorf. Hinter der Kirche St.   Barbara bog er zum neuen Friedhof ab, hinter dem er, obwohl er lange nicht mehr hier gewesen war, den Weg zwischen den Pferdeweiden fand, der den Berg hinunter durch das Katzenlochtal nach Ückesdorf führte.
    Endlich war ihm richtig warm geworden. Er sog die kalte Luft tief ein, lauschte dem Mampfen der Pferde an den Raufen hinter dem Zaun und genoss den Ausblick: hier ein Stück Natur, dort das Lichtermeer der Stadt. Man konnte sich vorstellen, wie es hier früher ausgesehen hatte, als die Stadtteile noch Dörfer inmitten von Feldern gewesen waren.
    Weiter ging es durch die glitschige Talsohle und hinauf zur Reichsstraße, auf der nur noch wenige Autos unterwegs waren. Er leistete sich einen Umweg an seiner alten Schule vorbei, die zehn Jahre lang sein Leben bestimmt und an der, viel später, auch die Ermordete gearbeitet hatte. Von dort aus nahm er den Fußweg nach Röttgen, hörte den Wind in den Baumkronen rauschen, den Götgesbach leise plätschern und lauschte dem Klang seiner eigenen Schritte auf der Brücke. Das war der Ort, den alle »Hölle« nannten – auch wenn kaum jemand wusste, warum er so hieß. Ich kriege das noch raus, nahm Freddy sich vor. Für ihn war der Weg die Hölle für Radfahrer, weil man abwärts zu schnell wurde und aufwärts ins Schnaufen kam.
    Als Freddy das Tal hinter sich gelassen hatte und in Röttgen auf die Kirche zuging, erschien die Mondsichel zwischen zerwirbelten Wolken und tauchte den Ortsrand in friedvolles Licht. Bis zu dem kleinen Haus am Kurfürstenplatz, das Freddy seit dem Tode seiner Eltern mit seinem Hund Billy bewohnte, war es nicht mehr weit. Seltsame Heimatgefühle befielen ihn. Undenkbar, dass zwischen Kirche und Kottenforst ein Mörder lebte. Er kam von woanders, von jenseits der Autobahn, deren Lärm herüberschallte, aus Stadtteilen mit anonymen Wohnblöcken oder von der anderen Seite der »Hölle«, wo Freddy außer Pilar und Richard niemanden näher kannte.
    * * *
    Richard hatte schon vor Tagen erklärt, er werde nicht zur Premiere kommen, weil er frühestens gegen halb acht von seiner Dienstreise aus Berlin zurückkehren würde und nicht während der Aufführung in den Saal platzen wolle, er komme lieber zu einer der nächsten Vorstellungen. Pilar war es recht gewesen. Jetzt aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher