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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
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habe ich nun doch nicht gesagt, Mrs. Harper.«
    Delia setzte sich schuldbewußt
auf und strich ihren Rock glatt. Sie warf einen peinlich berührten Blick auf ihre
Hasenohrenpantoffeln und die schmachtende Schönheit auf dem Buchumschlag. »Das
tut mir wirklich leid, Mrs. Harper«, sagte sie. »Soll ich Ihnen noch einen
Termin geben?«
    »Nein, er sagt, damit muß ich
zum Spezialisten. Zu einem wildfremden Mann!«
    »Kannst du ihr Petersons
Telefonnummer geben, Dee?« fragte Sam.
    Sie stand auf und ging zum
Schreibtisch, schlurfend in ihren Pantoffeln. (Mrs. Harper trug spitze Pumps
mit hohen Absätzen und setzte die Füße im rechten Winkel, um ihre schlanken
Fesseln ins rechte Licht zu rücken.) Delia blätterte in der Adressenkartei, die
nicht nach Namen, sondern nach Krankheiten geordnet war — Allergien,
Arthritis... Heutzutage war die Praxis eine bessere Durchgangsstation. Ihr
Vater holte früher noch Kinder zur Welt und führte kleine Operationen durch,
aber heute drehte sich alles nur noch um Impfungen gegen Wespenstiche im
Frühjahr, gegen Grippe im Herbst; und die Geburten, ach, darüber waren diese
Patienten lange hinaus. Sie hatten sie von ihrem Vater geerbt (oder sogar, wie Sam
im Scherz behauptete, von ihrem Großvater, der diese Praxis 1902 eröffnet
hatte; damals war Roland Park noch ländlich, und keiner fand etwas daran, daß
ein Arzt seine Praxis im Privathaus abhielt).
    Sie notierte Dr. Petersons
Telefonnummer auf einer Karte und reichte sie Mrs. Harper, die sie mißtrauisch
beäugte und dann in ihre Handtasche steckte. »Ich hoffe sehr, dieser Mensch ist
kein Jüngelchen«, sagte sie zu Sam.
    »Er ist garantiert über
dreißig«, versicherte ihr Sam.
    »Dreißig! Mein Enkel ist ja
älter! Oh, bitte, kann ich statt dessen nicht weiter zu Ihnen kommen?« Aber
weil sie seine Antwort schon kannte, wendete sie sich, ohne abzuwarten, an
Delia. »Dein Ehemann ist ein Engel«, sagte sie. »Er ist nicht von dieser Welt.
Ich hoffe, das ist dir klar.«
    »Oh, ja.«
    »Paß bloß auf, daß du ihn gut
behandelst!«
    »Ja, Mrs. Harper.«
    Delia sah zu, wie Sam die alte
Dame zur Tür brachte, dann ließ sie sich wieder auf das kleine Sofa fallen und
griff ihr Buch. »Beatrice«, sagte der Held, »ich begehre dich mehr als das Leben«,
und seine Stimme klang rauh und verzweifelt — unkontrolliert, war das Wort, das
der Autor benutzte. Unkontrolliert, und es schickte einen Schauer über ihren
schlanken Rücken unter dem schmeichelnden elfenbeinfarbenen Satin ihres
Negligées.
     
    * * *
     
    Anstatt Adrian über den Weg zu
laufen, konnte sie auch einfach dasitzen und hoffen, daß er sie ausfindig
machte. Vielleicht stellte er sich gerade vor, wie sie aussah, und suchte die
Straßen nach ihr ab. Oder er hatte ihre Adresse nachgeschaut; schließlich wußte
er ihren Nachnamen. Er parkte in diesem Augenblick an der nächsten Ecke und
hoffte, einen einzigen Blick von ihr zu erhaschen.
    Von nun an trat sie mehrmals
täglich vors Haus. Sie erfand tausend Gründe, sich in der Hollywoodschaukel auf
der Veranda zu drapieren. Obwohl sie eigentlich ungern draußen war und gewiß
ungern im Garten arbeitete, verbrachte sie eine halbe Stunde in Positur vor
Elizas Heilkräuterbeet, trug dabei Ziegenlederhandschuhe. Und seit einmal das
Telefon geläutet hatte und jemand auf ihr Melden hin stumm geblieben war — nur
tief geatmet hatte — , sprang sie bei jedem Läuten wie ein Teenager auf. »Ich
gehe ran! Ich gehe ran!« Wenn niemand anrief, versuchte sie wie ein junges
Mädchen mit dem Schicksal Kuhhandel zu treiben: Wenn ich nicht an ihn denke,
läutet bestimmt das Telefon. Ich gehe aus dem Zimmer, ich tu beschäftigt, dann
läutet das Telefon garantiert. Als sie ihre Familie ins Auto verfrachtete,
um Sams Mutter einen Sonntagsbesuch abzustatten, waren ihre Bewegungen fließend,
sinnlich, wie die einer Schauspielerin oder Tänzerin, ständig im Rampenlicht.
    Doch ein wirklicher Zuschauer,
was hätte er gesehen: Délias häusliches Drunter und Drüber. Ramsay, klein und
gedrungen, mit eisiger Miene, trotzig, wie er unwillig gegen einen Autoreifen
kickte; Carroll und Susie, die um einen Fensterplatz stritten; Sam, der sich
hinters Steuer klemmte, seine Brille auf der Nase zurechtrückte und ein
ungewohntes Wollhemd trug, in dem er dünnarmig und übertrieben aussah. Und am
Ziel ihrer Fahrt, die Eiserne Mama (wie Delia sie nannte) — die stabile,
unattraktive Eleanor Grinstead, die selbst ihr Dach deckte und ihren Rasen
mähte,
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