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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
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gekannt, seit Dr. Felson seine Anstellung
beschlossen hatte. War dieser Mensch verheiratet? hatten sie gefragt, und wie
alt war er? Und wie sah er aus? (Nein, er war nicht verheiratet, sagte ihr
Vater, und er war, na, zweiunddreißig, dreiunddreißig, und er sah gut aus. Gut?
Na ja, normal; vollkommen in Ordnung, sagte ihr Vater ungeduldig, denn ihm kam
es darauf an, daß der Mann ihm einen Teil seiner Arbeitslast abnahm — die
Hausbesuche und die Sprechstunden morgens.) Also stand Delia an jenem Sommertag
früh auf und zog ihr hübschestes Sonnenkleid an, das mit dem herzförmigen
Ausschnitt. Dann setzte sie sich ans väterliche Schreibpult und begann
demonstrativ seine Notizen abzuschreiben. Punkt neun Uhr stand der junge
Grinstead in der Tür, überm Arm einen gestärkten weißen Kittel. Die Sonne
blitzte aus seiner seriösen, randlosen Brille und überzog sein noch feuchtes,
strähnig gekämmtes blondes Haar wie mit einer Glasur; und Delia wußte immer
noch, wie pures Verlangen ihr Innenleben schwindelerregend ins Schlingern
gebracht hatte, als stände sie am Rande eines Canyons.
    Sam erinnerte sich nicht einmal
an dieses Treffen. Er behauptete, er hätte sie zum erstenmal beim Abendessen
gesehen. Es stimmte, das Essen hatte es gegeben, am Abend desselben Tages. Eliza
hatte einen Braten gemacht und Linda einen Kuchen gebacken (beide hatten ihre
hausfraulichen Fähigkeiten unter Beweis gestellt), während Delia, die Kleine,
zwei Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag und eigentlich außer Konkurrenz,
im Wohnzimmer Sam und ihrem Vater gegenüber gesessen und erwachsen an einem
Sherry genippt hatte. Der Sherry hatte nach flüssigen Rosinen geschmeckt und
jene neue mächtige Wurzel des Verlangens genährt, die von Minute zu Minute in
ihr tiefer an Boden gewann. Aber Sam behauptete, sie hätten, als er ins Zimmer
kam, auf dem Sofa gesessen. Wie die drei Königstöchter im Märchen, sagte Sam,
seien sie, die Älteste linksaußen, dem Alter nach aufgereiht gewesen, und wie
der brave Sohn des Holzfällers hätte er die Jüngste und Hübscheste gewählt, die
kleine Schüchterne rechts, die glaubte, sie hätte keine Chance.
    Sollte er glauben, was er Lust
hatte. Es hatte jedenfalls wie im Märchen geendet.
    Außer daß es in Wirklichkeit am
Ende weitergeht und sie nun hier saßen mit ihrer Klimaanlage und den
Handwerkern, die den Dachboden ruinierten, und der Katze, die sich unters Bett
verkroch, und Delia, die einen billigen Liebesroman auf dem Zweisitzer in Sams
Wartezimmer las — dem einzigen ruhigen Ort im Haus, denn in der Praxis und im
Wartezimmer war die Klimaanlage schon eingebaut. Delia hatte den Kopf auf eine
der Lehnen gelegt, und ihre Füße, in rosa Plüschpantoffeln, lagen auf der
anderen. Über ihr hing die Reproduktion des Norman-Rockwell-Bildes, die ihr
Vater gerahmt hatte: ein freundlicher alter Arzt horcht mit seinem Stethoskop
die Puppe eines kleinen Mädchens ab. Und hinter der dünnen Trennwand, die nicht
ganz bis zur Decke reichte, unterhielt sich Sam mit Mrs. Harper über die
Schmerzen in ihrem Ellbogen. Ihre Gelenke seien verschlissen, sagte er.
Entsetztes Schweigen; selbst die Elektrosäge schwieg. Dann: »Oh, nein!« keuchte
Mrs. Harper. »Du liebe Güte! Oh, um Himmels willen! Damit habe ich gar nicht
gerechnet!«
    Nicht gerechnet? Mrs. Harper
war zweiundneunzig Jahre alt. Was erwartete sie? hätte Delia beinah gefragt.
Doch Sam sagte freundlich: »Nun, ja, ich nehme an...«, und den Rest verstand
Delia nicht, weil die Säge wieder einsetzte, plötzlich, wie auf Bestellung.
    Sie blätterte um. Die Heldin
besichtigte den weitläufigen Besitz des Helden, bewunderte seine Güter und
seine geschmackvollen »Arrangements«, was immer das hieß. In so vielen dieser
Bücher waren die Helden wohlhabend, fand Delia. Bei den Frauen spielte das
keine Rolle; sie waren manchmal reich und manchmal arm, aber die Männer kamen
komplett mit Schloß und dienstbaren Geistern. Nie wieder mußten Frauen,
verheiratet mit diesen Männern, Gedanken an die zermürbende Last des Alltags
vergeuden — den feuchten Keller, den defekten Backofen, den verlorenen
Autoschlüssel. Es klang wunderbar.
    »Delia, Herzchen!« rief Mrs.
Harper, als sie aus dem Sprechzimmer schwankte. Sie war ein todschickes,
seidenverpacktes weibliches Gerippe; mit Händen wie Klauen, die Delia
beschwörend entgegenfuchtelten. »Dein Mann behauptet, meine Gelenke hätten sich
in Luft aufgelöst!«
    »Na, na«, protestierte Sam
hinter ihr. »Das
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