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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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über seine Worte. Wie konnte er das verstehen? Wie konnte einer von ihnen das verstehen? Sie waren Landgebundene.
    Sie ging über die Landzunge auf die Hütte zu. Gina und Tor folgten ihr. Sie nahm die üblichen Erfrischungen zu sich und stellte sich vor den offenen Kamin, um sich zu trocknen und aufzuwärmen. Sie antwortete nur einsilbig auf die höflichen Fragen und versuchte, ruhig zu bleiben und nicht daran zu denken, daß dies vielleicht ihr letzter Flug gewesen war. Die anderen akzeptierten ihr Schweigen, weil sie ein Flieger war, aber sie waren enttäuscht. Für die Landgebundenen waren die Flieger die einzige Möglichkeit, etwas über die anderen Inseln zu erfahren. Die Meere, in denen die Szyllas, Meerkatzen und andere Räuber ihr Unwesen trieben und die täglich von Stürmen heimgesucht wurden, waren für längere Schiffsreisen zu gefährlich. Lediglich zwischen den Inseln einer Gruppe gab es einigermaßen regelmäßigen Schiffsverkehr. Die Flieger stellten somit die einzige Verbindung zur Außenwelt dar, deshalb erwartete man von ihnen den neuesten Klatsch, die neuesten Balladen, Ereignisse und Romanzen.
    „Der Landmann möchte dich sprechen, wenn du dich ausgeruht hast“, sagte Gina und berührte Maris vorsichtig an der Schulter. Maris wandte sich ab. Dir genügt es, einem Flieger zu dienen, dachte sie. Du hättest gerne einen Flieger zum Ehemann, Coli vielleicht, wenn er erwachsen ist – du hast ja keine Ahnung, was es für mich bedeutet, daß Coli der Flieger sein wird und nicht ich. Aber sie sagte nur: „Ich bin jetzt fertig. Es war ein leichter Flug, der Wind hat die ganze Arbeit geleistet.“
    Gina führte sie in ein anderes Zimmer, wo der Landmann bereits auf ihre Botschaft wartete. Ein loderndes Feuer prasselte in einem großen Steinofen. Auch dieses Zimmer war lang und schmal und kaum möbliert. Der Landmann saß in einem bequemen Sessel am Feuer. Als Maris eintrat, erhob er sich. Flieger wurden immer wie Gleichwertige begrüßt, sogar auf den Inseln, wo die Landmänner über göttliche Macht verfügten und wie Götter verehrt wurden.
    Nach dem Begrüßungsritual schloß Maris die Augen und übermittelte die Botschaft. Sie wußte nicht, was sie sagte, und es war ihr auch gleichgültig. Man bediente sich ihrer Stimme, ohne ihr Bewußtsein zu belasten. Etwas Politisches, wenn sie sich nicht täuschte. In jüngster Zeit ging es meist um Politik.
    Als Maris fertig war, öffnete sie die Augen und lächelte den Landmann an – irgendwie zum Trotz, denn sie hatte gemerkt, daß ihre Botschaft ihn irgendwie beunruhigt hatte. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und erwiderte ihr Lächeln. „Danke“, sagte er ein wenig schwach. „Du hast gute Arbeit geleistet.“
    Man lud sie ein, über Nacht zu bleiben, aber sie lehnte ab. Es war möglich, daß der Sturm gegen Morgen abflaute, außerdem liebte sie Nachtflüge. Tor und Gina begleiteten sie nach draußen und führten sie den felsigen Pfad zur Fliegerklippe hinauf. Alle paar Fuß waren Laternen aufgestellt, um den Aufstieg in der Nacht sicherer zu machen.
    An der höchsten Stelle der Klippe befand sich ein natürlicher Sims, den Menschenhände verbreitert hatten. Der Felsen fiel achtzig Fuß ab, in der Tiefe dröhnte die Brandung. Gina und Tor entfalteten die Flügel und befestigten die Streben. Die dünne Metallfolie spannte sich glatt und silbrig. Maris sprang in die Tiefe.
    Der Wind fing sie auf und trug sie höher. Sie schwebte wieder zwischen der dunklen See und dem Sturmhimmel. War sie erst einmal gestartet, sah sie sich niemals nach den sehnsüchtigen Blicken der Landgebundenen um, die ihr folgten. Zu bald würde sie eine von ihnen sein.
    Sie dachte nicht daran heimzufliegen. Stattdessen ließ sie sich von heftigen Sturmböen nach Westen tragen. Wenn das Gewitter losbrach, mußte sie höher steigen, über die Wolken, wo die Gefahr gering war, daß ein Blitz sie traf. Zu Hause würde es ruhig sein, der Sturm war dort längst vorüber. Am Strand würden einige Leute nach Treibgut suchen, ein paar Fischer ruderten vielleicht in der Hoffnung hinaus, daß der Tag nicht ganz verloren war.
    Der Wind sang ihr in den Ohren und riß an ihr. Anmutig glitt sie durch die Weite des Himmels. Dann aber kam ihr Coli in den Sinn. Und plötzlich geriet sie aus dem Gleichgewicht. Sie sackte ab, kam ins Trudeln, fing sich dann und gewann wieder an Höhe. Sie verfluchte sich. Es war alles so gut gelaufen – sollte es jetzt so enden? Wahrscheinlich war
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