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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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Dämmerung brach an, und seine Mutter hatte befohlen, bei Tagesanbruch umzukehren.
    Es rannte. Wenn es sich beeilte, dachte es, und den ganzen Weg hin und den ganzen Weg zurück rannte, würde es vielleicht ein bißchen Zeit zum Zusehen haben, bevor seine Mutter es vermissen würde. Deshalb rannte und rannte es, vorbei an den faulen Langschläfern, die gerade aufgestanden waren, um den Strand abzusuchen. Die Muschel in seiner Tasche sprang hin und her.
    Der östliche Himmel war in blasses Orange getaucht, als es die Stelle erreichte, wo der Flieger kreiste. Hier war der Strand besonders breit. Die Stelle lag gleich unterhalb der Klippen, von denen die Flieger starteten. Das Kind kletterte gern die Klippen hinauf, um von oben alles sehen zu können. Der Wind spielte ihm dann im Haar, und seine Beine baumelten über den Rand der Klippen. Aber heute hatte es keine Zeit. Es mußte bald umkehren, sonst würde seine Mutter böse sein.
    Es war sowieso zu spät gekommen. Der Flieger setzte zur Landung an.
    Er flog noch einen eleganten Bogen über dem Strand, und seine Flügel rauschten in nur dreißig Fuß Höhe über seinen Kopf. Mit großen Augen beobachtete es ihn. Er legte sich über dem Wasser in die Kurve, einen silbernen Flügel nach unten, den anderen nach oben gerichtet. Plötzlich kam er in weitem Bogen heran. Dann änderte er die Richtung ein wenig und kam nun direkt auf es zu, senkte sich anmutig herab und berührte bei seiner Landung kaum den Boden.
    Am Strand waren auch noch andere Leute – ein junger Mann und eine ältere Frau. Sie rannten dem Flieger entgegen und halfen ihm anzuhalten. Dann machten sie etwas an seinen Flügeln, worauf diese zusammenklappten. Anschließend falteten sie die Flügel langsam und sorgfältig, während der Flieger die Gurte löste, mit denen die Schwingen an seinem Körper befestigt waren.
    Während das Mädchen die Szene beobachtete, erkannte es, daß es der Flieger war, den es besonders mochte. Es gab viele Flieger, und das Mädchen hatte gelernt, sie zu unterscheiden, aber nur drei von ihnen kamen häufig. Jene drei, die, wie es selbst, auf der Insel lebten. Das Kind stellte sich vor, daß sie oben auf den Klippen lebten, in Häusern, die Vogelnestern glichen, deren Wände aber aus unschätzbar wertvollem Metall bestanden. Einer der Flieger war eine ernste, grauhaarige Frau mit mürrischem Gesicht. Der zweite war ein dunkelhaariger, unglaublich hübscher Junge mit einer angenehmen Stimme. Ihn mochte sie lieber. Aber am liebsten mochte sie den Mann am Strand. Ein großer starker Mann mit breiten Schultern, wie ihr Vater sie gehabt hatte. Er war glattrasiert, hatte braune Augen und lockige rötlich-braune Haare. Er lächelte viel und schien häufiger als die anderen zu fliegen.
    „Du“, sagte er.
    Das Kind blickte erschrocken auf. Er lächelte es an.
    „Hab keine Angst“, sagte er, „ich tue dir nichts.“
    Ängstlich wich es einen Schritt zurück. Oft hatte es die Flieger beobachtet, aber noch nie hatte man es bemerkt.
    „Wer ist das?“ fragte der Flieger seine Helfer, die hinter ihm standen und seine Flügel falteten.
    Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Eine kleine Muschelsucherin. Was weiß ich. Ich habe sie schon des öfteren hier gesehen. Soll ich sie verjagen?“
    „Nein“, sagte der Mann. Er lächelte das Kind wieder an. „Warum bist du so ängstlich?“ fragte er. „Ich habe nichts dagegen, daß du zuschaust, kleines Mädchen.“
    „Meine Mutter hat mir verboten, die Flieger zu stören“, sagte das Kind.
    Der Mann lachte. „Oh, du störst mich nicht. Eines Tages, wenn du größer bist, kannst du den Fliegern helfen, so wie meine Freunde hier. Würde dir das gefallen?“
    Das Mädchen winkte ab. „Nein.“
    „Nein?“ fragte er erstaunt lächelnd. „Was würdest du denn gerne tun? Fliegen?“
    Das Kind nickte schüchtern.
    Die ältere Frau kicherte, aber der Flieger warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. Er ging auf das Kind zu, beugte sich zu ihm hinab und nahm seine Hand. „Na“, sagte er, „wenn du fliegen möchtest, mußt du aber viel üben, nicht wahr. Würdest du es gerne einmal probieren?“
    „Ja.“
    „Du bist jetzt noch zu klein für die Flügel“, sagte der Flieger. Er faßte sie mit seinen starken Händen und hob sie auf seine Schultern. Ihre Beine lagen auf seiner Brust und ihre Hände faßten unsicher in sein Haar. „Nein“, sagte er, „du darfst dich nicht festhalten, wenn du ein Flieger sein willst. Deine Arme müssen
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