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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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deine Flügel sein. Kannst du die Arme ausstrecken?“
    „Ja“, sagte es. Es hob die Arme und hielt sie wie ein Flügelpaar.
    „Deine Arme werden müde“, warnte der Flieger, „aber du darfst sie nicht sinken lassen, nicht wenn du fliegen willst. Ein Flieger braucht kräftige Arme, die niemals müde werden.“
    „Ich bin stark“, sagte das Mädchen mit Nachdruck.
    „Gut. Bist du bereit?“
    „Ja.“ Sie begann mit den Armen zu schlagen.
    „Nein, nein, nem“, sagte er. „Nicht schlagen. Wir sind doch keine Vögel. Ich dachte, du hättest uns beobachtet?“
    Das Kind versuchte sich zu erinnern. „Drachen“, sagte es plötzlich, „ihr seid wie Drachen.“
    „Manchmal“, sagte der Flieger erfreut. „Aber auch wie Nachtfalken und andere Gleitvögel. Weißt du, wir fliegen nicht richtig, wir gleiten wie Drachen. Wir reiten auf dem Wind. Deswegen darfst du nicht mit den Armen schlagen, du mußt sie ausstrecken und versuchen, den Wind zu fühlen. Kannst du den Wind schon fühlen?“
    „Ja.“ Es war ein warmer, scharfer Wind, der nach See roch.
    „Nun, versuche ihn mit deinen Armen zu fangen, laß dich treiben.“
    Sie schloß die Augen und versuchte den Wind auf ihren Armen zu fühlen.
    Sie begann sich zu bewegen.
    Der Flieger lief über den Sand, als würde er vom Wind getrieben. Wenn der Wind umschlug, änderte er die Richtung. Sie hielt die Arme ausgestreckt. Der Wind schien stärker zu werden. Der Mann rannte, und sie hüpfte auf seinen Schultern auf und ab, es ging immer schneller.
    „Du fliegst mich ins Wasser!“ rief er. „Dreh um!“
    Sie neigte ihre Flügel, so wie sie es oft bei den Fliegern beobachtet hatte. Eine Hand nach oben, die andere nach unten gerichtet. Der Flieger machte eine Drehung nach rechts und begann im Kreis zu laufen, bis sie ihre Arme wieder waagerecht hatte. Jetzt lief er wieder geradeaus, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
    Er lief und lief, und sie flog, bis beide atemlos waren und lachten.
    Er hielt an. „Genug“, sagte er, „ein Anfänger sollte nicht zu lange fliegen.“ Er hob das Mädchen von den Schultern und setzte es auf den Sand.
    Die Arme der Kleinen schmerzten, aber sie war aufgeregt und überglücklich, obwohl sie wußte, daß zu Hause eine Tracht Prügel auf sie wartete. Die Sonne stand jetzt über dem Horizont. „Danke“, sagte sie, immer noch außer Atem.
    „Ich heiße Russ“, sagte er. „Wenn du wieder fliegen möchtest, komm hierher. Ich habe sonst keine kleinen Flieger, um die ich mich kümmere.“
    Das Kind nickte begeistert.
    „Und du“, sagte er und klopfte sich den Sand von der Kleidung, „wer bist du?“
    „Maris“, antwortete das Mädchen.
    „Ein hübscher Name“, erwiderte der Flieger freundlich. „Nun, Maris, ich muß jetzt gehen. Aber vielleicht werden wir wieder einmal gemeinsam fliegen?“ Er lächelte sie an und drehte sich um. Er ging den Strand entlang. Die beiden Helfer begleiteten ihn; einer trug seine gefalteten Flügel. Sie begannen zu sprechen, als sie sich von ihm entfernten, und es hörte sein Lachen.
    Plötzlich rannte es hinter ihm her, hatte aber Mühe, seinen gewaltigen Schritten zu folgen und ihn einzuholen.
    Er hörte das Mädchen kommen und drehte sich zu ihm um. „Ja?“
    „Hier.“ Es griff in die Tasche und reichte ihm die Muschel.
    Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht, die dann einem freundlichen Lächeln wich. Er nahm die Muschel feierlich entgegen.
    Das Mädchen legte die Arme um ihn und drückte ihn überschwenglich. Dann lief es davon. Es hielt die Arme ausgestreckt und rannte so schnell, daß es zu fliegen schien.

 

     
     

Teil Eins
 
Stürme
     
     
    Maris ließ sich von den Sturmböen über das Meer dahintreiben. Sie zähmte die Winde mit breiten Flügeln aus Metallfolie. Waghalsig flog sie über die Wellen, die Gefahr und die Gischtspritzer bereiteten ihr Vergnügen, die Kälte störte sie nicht im geringsten. Der Himmel hatte eine ominöse kobaltblaue Färbung angenommen, der Wind frischte auf, und sie hatte Flügel, das reichte ihr. Sie hätte jetzt sterben können und wäre glücklich gestorben, im Flug.
    Sie flog besser als jemals zuvor. Sie wirbelte und glitt sorglos zwischen den Luftströmungen dahin und überließ sich geschickt den Aufwinden oder Fallwinden, die sie weiter oder schneller tragen konnten. Sie traf keine falsche Entscheidung, wurde nicht zu einem hektischen Gekurve dicht über dem aufgewühlten Ozean gezwungen. Es wäre sicherer gewesen, wie ein
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