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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal
Autoren: Libba Bray
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eine furchtsame Kirchenmaus zu nähern.«
    Manchmal stelle ich mir vor, nach welcher Art Beschäftigung Mrs Nightwing wohl ausschauen würde, würde sie uns nicht tagaus, tagein als Direktorin der Spence-Akademie für junge Damen malträtieren. Sehr geehrte Herren, so könnte ihr Brief lauten. Ich schreibe wegen der Anzeige für die Stellung als Ballon-Popper. Wenn ich es richtig verstehe, geht es darum, Luftballons mit einem Knall im Flug zerplatzen zu lassen. Ich habe eine Haarnadel, mit der ich den Trick fabelhaft beherrsche und die Kinder überall zum Heulen bringen würde. Meine früheren Dienstherren werden bestätigen, dass ich selten lächle, niemals lache und aus jedem Zimmer, das ich betrete, augenblicklich die Fröhlichkeit vertreibe, um meine einzigartige Aura von Trübsinn und Hoffnungslosigkeit darin zu verbreiten. Meine Referenzen in dieser Hinsicht sind einwandfrei. Falls Sie nicht allein durch die Lektüre dieses Briefes in einen Zustand tiefer Melancholie verfallen sind, senden Sie bitte Ihre Antwort an Mrs Nightwing (Ich habe einen Vornamen, aber niemandem ist es erlaubt, ihn zu gebrauchen), c/o Spence-Akademie für junge Damen. Wenn Sie es nicht für nötig halten, die Adresse selbst herauszufinden, dann lässt Ihr Bemühen zu wünschen übrig. Hochachtungsvoll, Mrs Nightwing
    »Miss Doyle! Was soll dieses dümmliche Grinsen auf Ihrem Gesicht? Habe ich irgendetwas gesagt, das Sie amüsiert?« Mrs Nightwings Ermahnung treibt mir die Röte in die Wangen. Die anderen Mädchen kichern.
    Wir gleiten über den Fußboden und versuchen so gut wir können, das Gehämmer und Geschrei zu ignorieren. Es ist nicht der Lärm, der uns ablenkt. Es ist die Tatsache, dass Männer hier sind, im Stockwerk über uns, die uns kribbelig und leichtfüßig macht.
    »Vielleicht könnten wir nachsehen, wie die Bauarbeiten vorangehen, Mrs Nightwing?«, schlägt Felicity Worthington mit honigsüßer Liebenswürdigkeit vor. Nur Felicity besitzt die Dreistigkeit, einen solchen Vorschlag zu machen. Sie ist mehr als wagemutig. Außerdem ist sie eine meiner wenigen Verbündeten, die ich hier in Spence habe.
    »Die Arbeiter können keine Mädchen zu ihren Füßen brauchen, da sie bereits hinter dem Zeitplan zurück sind«, sagt Mrs Nightwing. »Köpfe hoch, wenn ich bitten darf! Und …«
    Ein ohrenbetäubendes Gepolter dringt von oben herab. Der plötzliche Lärm lässt uns zusammenfahren. Sogar Mrs Nightwing entschlüpft ein »Gott sei uns gnädig!«.
    Elizabeth, die nichts als ein Nervenbündel in der Verkleidung einer Debütantin ist, schreit auf und klammert sich an Cecily. »Oh, Mrs Nightwing!«
    Wir sehen unsere Direktorin hoffnungsvoll an.
    Mrs Nightwing kräuselt missbilligend die Lippen und stößt einen Seufzer aus. »Also gut. Wir unterbrechen vorübergehend. Wir wollen an die frische Luft gehen, um wieder rosige Wangen zu bekommen.«
    »Dürfen wir unsere Zeichenblöcke mitnehmen, um den Fortschritt der Bauarbeiten am Ostflügel zu skizzieren?«, frage ich.
    Mrs Nightwing schenkt mir ein seltenes Lächeln. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Miss Doyle. Also gut. Holen Sie Ihre Zeichenblöcke und Stifte. Ich werde Brigid beauftragen, Sie zu begleiten. Ziehen Sie Ihre Mäntel an. Und nun gehen Sie schon.«
    Mit unseren Rückenbrettern legen wir auch unsere Manieren ab und stürmen zur Treppe und in die verheißene Freiheit, mag sie auch von noch so kurzer Dauer sein.
    »Gehen!«, ruft Mrs Nightwing. Da wir ihrem Rat offensichtlich keine Beachtung schenken, brüllt sie uns nach, wir seien Wilde und untauglich für die Heirat. Aber wir sind schon die erste Treppe hinunter und ihre Worte können uns nicht mehr erreichen.

2. Kapitel
    Der lang gezogene Trakt des Ostflügels mit dem Gerüst davor erstreckt sich wie das Skelett eines großen hölzernen Vogels. Aber die Hauptarbeit der Männer konzentriert sich auf die Restaurierung des verfallenen Turms, der den Ostflügel mit dem übrigen Schulgebäude verbindet. Seit dem Feuer, das ihn vor fünfundzwanzig Jahren zerstörte, war er nichts als eine schöne Ruine. Aber jetzt wird er mit Stein und Ziegeln und Mörtel wiederaufgebaut und verspricht schließlich ein herrlicher Turm zu werden – hoch und mächtig und imposant.
    Seit Januar kommen Scharen von Männern hierher, um täglich außer sonntags in der Kälte und Nässe zu arbeiten und unsere Schule wieder ganz zu machen. Wir Mädchen dürfen uns dem Ostflügel während der Bauarbeiten nicht nähern. Der offizielle Grund
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