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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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erleben. Ich bleibe, was ich bin. Eine geachtete, durchaus bei Kindern und Müttern nicht unbeliebte Klavierlehrerin mit einem sehr durchschnittlichen Durchschnittseinkommen, Weihnachtsgeld und immerhin fünfzehn Wochen Ferien im Jahr. Mehr Ferien kann man in Bad Orks sowieso nicht brauchen, weil man dann vor Langeweile stirbt.
    Der Direktor hat mich auf dem Parkplatz angesprochen und mich gefragt, wie es mit meinen Zukunftsplänen aussähe. Unglücklicherweise stand Regina dabei, die mir gerade seit anderthalb Stunden Begebenheiten aus der freudlosen Kindheit von Gernot schilderte. Sie fragte verblüfft, ob ich etwa heiraten wolle. Der Direktor lachte herzlich und sagte, dass es sich im Leben einer Frau nicht immer um Heirat handeln müsse, wenn sie über ihre Zukunft nachdächte. Nicht wahr, Frau Kanisius? Das war ausgesprochen klug und druckreif formuliert. Regina war sprachlos. Was ich denn dann um alles in der Welt vorhätte? Daraufhin erwiderte der Direktor, ich trüge mich mit dem Gedanken, die Pianistenlaufbahn einzuschlagen und ein Hochbegabten-Stipendium in Berlin anzustreben. Dazu müsse ich mich nur in Berlin zu einem Vorspiel durchringen, und er sei sicher, dass ich dieser Aufnahmeprüfung sehr wohl gewachsen sei. Mein letztes Klavierkonzert im Kurhaus sei doch schließlich Beweis genug, dass es sich bei mir um ein verborgenes Kleinod handele. Er meine das rein musikalisch, eine Beurteilung meiner Persönlichkeit stehe ihm nicht zu, leider. Dann nickte er mir in inniger Vertrautheit zu, rückte seine Baskenmütze über den widerborstigen Vorderhauptsträhnen zurecht und befestigte im Weggehen zwei Metallklammern an den Hosenbeinen, um kurz darauf vorschriftsmäßig ausgerüstet vom Schulhof zu radeln. Ich verborgenes Kleinod stand ganz schön bescheuert da mit meinen Zukunftsplänen und blickte ihm ratlos nach.
    Regina war, wie sie sagte, sehr betroffen. Warum ich ihr denn nichts gesagt hätte von meinen Plänen, wo wir doch ein so vertrautes Verhältnis hätten? Sie sei wirklich schwer gekränkt. Womit sie das verdient hätte, wo sie doch schon seit vielen Jahren so um Offenheit bemüht war, und selbst kein Geheimnis aus ihrer Mördergrube machte oder so ähnlich. Dabei drehte sie sich um und wischte sich die Augenwinkel, im Weggehen natürlich. Regina geht immer weg, wenn sie weinen muss. Das macht sie ungern vor Kollegen, da ist sie diskret, alles was recht ist. Jedenfalls bot sich mir keine Gelegenheit, ihr meine äußerst vagen und eigentlich schon wieder verworfenen Zukunftspläne zu erörtern, und der Direktor ist ein saublöder Trottel, der überhaupt kein Taktgefühl hat.
    Heute ist der nervende kleine Detlef mit der frühkindlichen Notenlesestörung nicht gekommen, da hatte ich eine Stunde Zeit, in meinem Musikzimmer zu sitzen und mal wieder eine Beethoven-Sonate zu spielen. Es ist doch ein außerordentlich befreiendes Gefühl, so in die Tasten zu hauen und selbstvergessen den scheppernden Klängen eines morschen Musikschulflügels nachzulauschen. Ich weiß nicht, ob mich die Sehnsucht ereilt hat, meine Fingerfertigkeit weiter auszubauen, oder ob es nur die aufkeimende Hoffnung ist, Regina nie wieder sehen zu müssen: Der Gedanke, an die Hochschule der Künste nach Berlin zu gehen, erscheint mir auf einmal nicht mehr so abwegig wie gestern oder vorgestern noch.
    Sich vorzustellen, morgens aufzustehen, sich ans Klavier zu setzen und stundenlang zu spielen! Einfach so, für mich selber! Große weite Welt schnuppern! Auf den Brettern, die in jenen Glücksrausch versetzen, der süchtig macht! In der Zeitung zu stehen, mit Bild. Und Lebenslauf. »Die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Karla Umweg erlernte schon früh den Umgang mit den schwarzen und weißen Tasten. Nachdem sie zunächst in einer hessischen Kleinstadt als einfühlsame Musikpädagogin tätig war, gelang ihr der sensationelle Sprung ins internationale Konzertleben. Heute Abend debütiert die junge begabte Pianistin in der Kölner Philharmonie. Restkarten für Stehplätze erhalten Sie beim Kartenbüro.« Und neben mir, auf einem schwarzen Hocker, sitzt Regina Kanisius, zum Umblättern meiner Noten …
    Am Wochenende war ich mal wieder bei Papa und Mama. Beide Eltern freuten sich sehr, dass aus mir nun doch noch was Besonderes wird, und Papa war sofort bereit, mich in der ersten Zeit finanziell ein wenig zu unterstützen, falls meine Konzertgagen mich nicht sofort über Wasser halten könnten. Mama sagte gerührt, ich sei zu
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