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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben
Autoren: Charlotte Lyne
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verleihen und die Amsel in unserem Schutz zu belassen.«
    Einen Herzschlag lang hasste Randulph seinen Prior in all seiner Selbstgerechtigkeit: Wie viel leichter war es doch, christliche Liebe und Mitleid zu zeigen, wenn das eigene Herz nicht beteiligt war! Besaß Francis überhaupt eines, hatte er die Versuchung der Gefühle je gekannt? Und wusste er, welches Glück er hatte, weil er als Knabe nach Quarr gekommen war, nicht als Mann, der bereits ein Leben geführt hatte? Francis hatte sein Torhaus zum Himmel gefunden, keine Vergangenheit hing ihm an, und kein Mensch zweifelte je an seiner Berufung. Für Randulph aber war es nie so gewesen. Es schien, als müsse er die Festigkeit seines Entschlusses jeden Tag und mit allem, was er tat, neu beweisen.
    In sein Grübeln drang das Getöse, mit dem Fäuste an die Tür trommelten. Eine Beratung zwischen Abt und Prior störte man nicht, und war es doch einmal nötig, so klopfte man so zaghaft wie nur möglich an. Wenn jemand sich derart vergaß, musste es um Leben und Tod gehen.
    »Ja!« Randulph riss die Tür auf.
    Im Gang stand Timothy, einer der Laienbrüder, die vor den Toren der Abtei lebten und für die Pferde sorgten. Im ersten Augenblick glaubte Randulph, der Mann werde ihm verletzt in die Arme stürzen, denn sein Hemd war vom Bund bis zum Hals mit Blut durchtränkt. »Die Mädchen, Vater«, stammelte er, »das Amselchen und die kleine Braune, sie sind in der Nacht mit dem teuflischen Hund los, weil der Herr der Kleinen nicht zurückgekommen ist. Am Waldsee haben sie ihn schließlich gefunden.«
    »Gefunden«, wiederholte Randulph sinnlos. Dann begriff er. »Was ist mit ihm?«, fuhr er den Mann an. »Tot?«
    Über seiner blutbefleckten Brust schlug Bruder Timothy das Kreuz.

3
    D
as Heulen des Höllenhundes hatte auch Amicia geweckt. Sie war es gewohnt, von viel leiseren Geräuschen aufzuschrecken, und jedes Mal saß sie kerzengerade auf dem Lager und presste die Hände auf ihr rasendes Herz. Amicia unterstützte die Mönche seit Jahren in der Krankenpflege, weil Abt Randulph befunden hatte, für ein Mädchen in ihrer Lage sei dies noch das Schicklichste. Sie wusste, dass es für ihr Herz gefährlich war, bei der kleinsten Störung zu jagen, aber was hätte sie dagegen tun sollen? So still und fern jeder Aufregung sie ihr Leben auch führte, es blieb für ihr Herz immer gefährlich.
    Das Heulen des Hundes verhieß wirkliche Not, nicht nur die, die ihr Hirn ihr vorgaukelte. Sie sprang auf und stieg im Laufen in die Kleider. Die Tür der Hütte stand offen, die kleine Magdalene, deren herzzerreißendes Weinen sich mit dem der Bestie vereinte, musste vergessen haben, sie zu schließen. Herzzerreißend. Warum konnte sie keinen Menschen weinen hören, ohne das Gefühl zu haben, der Schmerz zerfetze ihr die Brust?
    Es war Neumond, doch die Sternenfülle streute Lichter ins Dunkel. Amicia sah Magdalene hinter den Koppeln neben dem wilden Hund am Boden knien. Mit aller Kraft rannte sie und schrie: »Komm von dem Tier weg, du verrücktes Ding! Er ist toll!«
    Magdalene hörte sie nicht. Erst als Amicia bis auf fünf Schritte herangekommen war, wandte sie ihr das Gesicht zu. Im Sternenlicht glänzte es tränenüberströmt. »Hilf uns, Amsel! Mein Herr Matthew – etwas Furchtbares muss ihm zugestoßen sein!«
    Sie brauchte mehrere Anläufe, um sich stammelnd zu erklären: Der Hund war allein zurückgekehrt. Da aber ihr Herr Matthew sich von dem Tier nie trennte, musste er mit Gewalt an der Rückkehr gehindert worden sein. »Ich habe ihn immer gewarnt«, weinte Magdalene. »All diese Leute, die dem König Geld schulden, wollen ihm ans Leben. Wie oft habe ich ihn gewarnt! Aber warum soll ein kluger Mann wie Herr Matthew auf ein dummes Mädchen wie seine Mag hören?«
    Amicia hatte versucht, ihr klarzumachen, dass das Pferd nicht aufgetaucht war und somit wohl noch unterm Sattel seines Reiters ging, doch Magdalene wollte nichts davon hören. Weil sie ihr Gejammer nicht länger ertrug, ging Amicia schließlich mit ihr, um den Vermissten zu suchen.
    Magdalene bestand darauf, den Mastiff mitzunehmen. »Ich weiß, er ist eine Ausgeburt der Hölle«, sagte sie. »Aber er wird uns zu Herrn Matthew führen.« Zwar zitterten ihr die Finger, während sie ihren Gürtel aufknotete und ihn dem Hund durchs Halsband zog, doch das Tier, das Amicia vor Tagen beinahe zerfleischt hatte, ließ sich binden wie ein Lamm. Gleich darauf lief es zielstrebig dem Wald entgegen.
    Es grenzte an Wahnsinn,
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