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Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Titel: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Autoren: Michael Ende
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»Na, das wäre eine schöne Geschichte!«
    Rasch schlüpften sie in ihre Schuhe und folgten Fing Pong eilig in den Garten des Palastes. Sie fanden den Drachen in einem großen, halb verfallenen Pavillon, der vor Jahren als Stall für die kaiserlichen weißen Elefanten gedient hatte. Hier lag er hinter dicken Gitterstäben, hatte den Kopf auf die Tatzen gelegt und hielt die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Fing Pong hielt sich vorsichtig im Hintergrund, während Lukas und Jim nahe an die Gitterstäbe herantraten.
    »Na, was gibt’s denn?« fragte Lukas. Seine Stimme klang unwillkürlich ein wenig freundlicher, als er beabsichtigt hatte.
    Der Drache antwortete nicht, rührte sich auch nicht, statt dessen geschah etwas sehr Merkwürdiges. Es war nämlich, als liefe plötzlich von der Spitze der Schnauze über den ganzen riesigen Leib bis zum Schwanzende ein goldener Schimmer.
    »Hast du das gesehen?« flüsterte Lukas, und Jim antwortete ebenso leise: »Ja, was kann er nur haben?« Jetzt öffnete der Drache langsam seine kleinen Augen, die aber nicht mehr wie früher tückisch funkelten, sondern nur noch sehr, sehr müde aussahen.
    »Danke, daß ihr gekommen seid«, murmelte der Drache mit schwacher Stimme. »Verzeiht, aber ich kann nicht mehr lauter sprechen. Ich bin so schrecklich müde - so schrecklich müde …«
    »Hör mal, er schnarrt und zischt gar nicht mehr«, flüsterte Jim. Lukas nickte. Dann fragte er laut:
    »Sagen Sie, Frau Mahlzahn, Sie werden doch nicht sterben?«
    »Nein«, antwortete der Drache, und es war, als ob für eine Sekunde ein Lächeln über sein häßliches Gesicht huschte. »Es geht mir ganz gut, macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe euch nur rufen lassen, um mich bei euch zu bedanken …«
    »Wofür denn?« fragte Lukas, zum erstenmal genauso verblüfft wie Jim, der vor Staunen wieder mal kugelrunde Augen bekam.
    »Dafür, daß ihr mich überwunden habt, ohne mich zu töten. Wer einen Drachen überwinden kann, ohne ihn umzubringen, der hilft ihm, sich zu verwandeln. Niemand, der böse ist, ist dabei besonders glücklich, müßt ihr wissen. Und wir Drachen sind eigentlich nur so böse, damit jemand kommt und uns besiegt. Leider werden wir allerdings dabei meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, so wie bei euch und mir, dann geschieht etwas sehr Wunderbares …«
    Der Drache schloß die Augen und schwieg eine Weile, und wieder lief dieser merkwürdige goldene Schimmer über seinen Leib. Lukas und Jim warteten stumm, bis er seine Augen wieder öffnete und mit noch matterer Stimme fortfuhr:
    »Wir Drachen wissen sehr viel. Aber solange wir nicht überwunden worden sind, fangen wir damit nur Arges an. Wir suchen uns jemand, den wir mit unserem Wissen quälen können - so wie ich zum Beispiel die Kinder. Ihr habt es ja gesehen. Wenn wir aber verwandelt sind, dann heißen wir ›Goldener Drache der Weisheit‹, und man kann uns alles fragen, wir wissen alle Geheimnisse und lösen alle Rätsel. Aber das kommt alle tausend Jahre nur einmal vor, weil eben die meisten von uns getötet werden, ehe es zur Verwandlung kommt.«
    Wieder schwieg der Drache, und zum drittenmal huschte der goldene Schimmer über ihn hin. Aber diesmal war es, als bliebe eine winzige Spur des Goldes an seinen Schuppen hängen, nur so viel wie der Hauch von Glanz, den man an den Fingern behält, wenn man einen Schmetterling berührt hat. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder seine Augen aufschlug und kaum noch hörbar weitersprach:
    »Das Wasser des Gelben Flusses, in dem ich geschwommen bin, hat mein Feuer ausgelöscht. Jetzt bin ich sterbensmüde. Wenn der goldene Schimmer das nächste Mal über mich gehen wird, werde ich in einen tiefen Schlaf versinken, und es wird aussehen, als wäre ich tot. Aber ich werde nicht sterben. Ich werde ein ganzes Jahr lang reglos liegen. Bitte, sorgt dafür, daß mich niemand berührt in dieser Zeit. Nach einem Jahr, von dieser Stunde an, werde ich aufwachen und ein ›Goldener Drache der Weisheit‹ sein. Dann kommt zu mir, und ich werde euch alle Fragen beantworten. Denn ihr beide seid meine Herren, und was ihr mir befehlt, werde ich tun. Um euch aber meine Dankbarkeit zu beweisen, möchte ich euch schon jetzt einen Gefallen tun. Ein wenig von meiner zukünftigen Weisheit habe ich nämlich schon, wie ihr an dem goldenen Schimmer sehen könnt, der an mir hängengeblieben ist. Wenn ihr also etwas wissen wollt, dann fragt mich. Aber eilt euch, es bleibt wenig
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