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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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warteten, in Richtung Portsmouth aufzubrechen oder ihre aus London eingetroffenen Lieben abzuholen. In den Schwaden, die sich nur zögerlich auflösten, luden Träger die Koffer und Reisetaschen für Guildford aus und hievten das zur Weiterfahrt bereitstehende Gepäck hinein.
    »Da ist sie! Ads! Hier sind wir! Hier! Ads! «
    Der altvertraute und nie wirklich abgelegte Kosename ließ Ada sich umdrehen. Lachend und leichtfüßig, wie ein Sonnenstrahl, der frühmorgendlichen Dunst durchbrach, lief Grace ihr entgegen, den Rock ihres blau geblümten Kleides mit der einenHand gerafft, während die andere den kleinen Strohhut auf dem hellen Haar festhielt.
    »Gracie!« Ein Ausruf, der einem Schluchzen gleichkam.
    Die Schwestern hielten einander fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen.
    »Willkommen zu Hause, Liebes.« Die Stimme ihrer Mutter hüllte sie ein, weich und zärtlich wie eine Liebkosung.
    »Mama!« Ada schmiegte sich an sie, als sei sie nicht siebzehn, sondern erst zwölf, sog den Duft nach Lavendel und Zitronenverbene ein, der für sie eins war mit Geborgenheit, solange sie zurückdenken konnte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Beckys vergnügtes Grübchenlächeln verschwimmen ließen. Und Ben, der gute alte Ben, grinste über das ganze verwitterte, apfelbäckige Gesicht und tippte sich an die Tweedmütze, bevor er sich nach den Koffern bückte, deren Anhänger mit »Ada Norbury, Shamley Green, Surrey, England« beschriftet waren.
    Adas Herz schwoll an vor Glückseligkeit, bis es beinahe zerbarst.
    Ich bin wieder zu Hause.

2
    »... nehmen wir als Beispiel Lord Raglans Erkundungsritt in der Schlacht an der Alma.«
    Colonel Sir William Lynton Norbury machte eine bedeutungsvolle Pause. Seine Augen, kühl und scharf und durchdringend, wanderten über die gut zwanzig jungen Männer, die in ihren marineblauen Uniformen immer zu zweit in den Holzbänken saßen und seinen Blick aufmerksam erwiderten.
    Aus dunkelblauem Tuch war auch seine eigene Uniform, jedoch entlang der Hosennaht mit einem scharlachroten Streifen versehen, der ihn als Vorgesetzten und Ausbilder auswies, und während sich die Kadetten mit Messingknöpfen als alleinigem Zierrat begnügen mussten, bezeugten Abzeichen am Stehkragen und auf den Schulterstücken des Colonels Rang.
    Hochgewachsen und sehnig, fast hager, hatte er auch lange nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nichts von der militärisch strammen Haltung eingebüßt, die ihm in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war. Obschon es ihn heute, mit bald sechzig, zunehmend Anstrengung kostete, diese beizubehalten. Die klaren, wie herausgemeißelten Züge seines Gesichts waren mit der Zeit verwittert, abgeschliffen von den scharfen Winden des Hindukusch, ausgewaschen vom Monsun und abgeschmirgelt vom Sand der Wüste. Sengende Sonne und Fieber hatten Linien und Furchen eingegraben, das einst braune Haar zu Eisgrau abgelaugt. Äderchen waren unter dem Biss vonFrost und Schnee geplatzt, überzogen Wangen und Nase mit einem feinen Netz von Rötungen. Ein Gesicht, gezeichnet von Mühsal und Krieg, von einem Leben auf Messers Schneide zwischen Töten und Getötetwerden, aber auch geprägt vom Stolz, der Krone mit Leib und Seele gedient zu haben; ein Gesicht, das den Kadetten ihre Zukunft vor Augen hielt und ihnen einen Vorgeschmack bot auf das, was sie erwartete.
    »Wer erklärt sich zu einer kurzen Zusammenfassung bereit?«
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Hand, die sich in der ersten Reihe hob, die Finger locker und der Ellenbogen auf der Tischplatte ruhend, aufmerksam und dennoch lässig, mehr selbstsicher denn strebsam. Dieselbe Hand, die sich immer hob, wenn es eine Frage zu beantworten galt.
    Seine Wahl fiel auf einen Offiziersanwärter, der das kantige Kinn auf die Faust gestützt hatte und aus glasigen Augen in die Ferne blickte. Das Gähnen, das der Kadett unterdrückte, lief wie ein Krampf durch seine untere Gesichtshälfte, und unter der Bank wippte ein Knie zu einem unhörbaren Takt, der sich in der schnellen, pendelnden Bewegung des Federhalters zwischen zwei Fingern wiederholte.
    »Kadett Digby-Jones!«
    Der Kopf mit dem streichholzkurzen lichtbraunen Haar ruckte hoch, und wie ein Schachtelteufel sprang Simon Digby-Jones auf. »Bitte um Verzeihung für meine Unachtsamkeit, Colonel Sir!«
    Aus großen Augen sah er den Colonel an. Grau waren sie wie Regenwolken und ebenso veränderlich: In einem Moment noch rauchig in Schuldbewusstsein, klarten sie
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