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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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der Morgensonne, durch den Staub, bis ihre ledernen Schnürschuhe vollkommen weiß gewesen waren.
    Mit Sicherheit hätte Clara die Einsamkeit der gesamten Heimreise dazu genutzt, sich zu fragen, was dieser übereilte Aufbruch und die seltsame Stimmung im Haus ihrer Gastgeber zu bedeuten gehabt hatten, wenn nicht Jacques plötzlich zwischen all den Kisten, Koffern und lärmenden Menschen am Kai aufgetaucht wäre und wild seinen Hut geschwungen hätte. Clara hatte ihn bemerkt, als Selena sie gerade an den Schultern fasste und Richtung Gangway bugsieren wollte, die auf den Dampfer hinaufführte. Hinter der Reling tummelten sich schon die Passagiere. »Vamos! Vamos!« Als wäre sie ebenfalls ein störrischer Esel. Clara hatte sich aus dem Griff der Haushälterin befreit und nach Jacques Ausschau gehalten.
    Er winkte noch immer in der Menschenmenge, die sich bis dicht an die Hafenkante drängte. Clara sah Kinder, die sich an die langen Röcke ihrer Mütter klammerten, um nicht ins Hafenbecken zu stürzen. Sie sah Väter, die ihre Kinder auf die Schultern hoben. Sie sah weinende Frauen, die sich küssend von ihren Männern verabschiedeten. Sie sah Selena, die sich durch die Menschenansammlung zurück zum Eselskarren kämpfte. Und sie sah Jacques’ wundersame grüne Augen.
    Während sich um Clara herum die Menge langsam auflöste, die Möwen über dem Schornstein kreisten und das Meer gegen die Hafenmauer klatschte, spürte sie Jacques’ warme Hände, die nach ihren Kofferhenkeln griffen und das Gepäck sacht wieder auf dem Boden abstellten. Sie fühlte, wie er ihre Hände zart umfasste. Er lächelte und flüsterte: »Adiós por ahora, Clarissa.«
    War er tatsächlich wegen ihr so früh zum Hafen heruntergekommen? Doch bevor sie ihn fragen konnte, schlug ihr Herz mit einem Mal so heftig, dass ihr die richtigen Worte nicht mehr einfielen. Die Zeit schien zu verfliegen, hundertmal schneller als je zuvor in ihrem Leben.
    »Du musst gehen!«, hörte sie Jacques von Ferne sagen. »Sonst legt das Schiff ohne dich ab.« All das sagte er auf Katalanisch, mit dem leicht französischen Akzent seiner Mutter. Und doch verstand sie jedes Wort. Er lächelte. Clara war, als stünde sie in der Mitte eines Wirbelsturms. Sie konnte sich nicht bewegen, keinen Schritt tun. Ihre Locken flogen über ihr Gesicht. Der Boden schwankte. Aber Jacques lächelte und hielt sie an den Händen fest, als wartete auch er darauf, dass der Wirbelsturm sich wieder legte.
    Sie hörten das Schiffshorn, das zum Aufbruch mahnte.
    Schließlich ließ er ihre Hände los. Eilig griff sie in ihre Tasche und reichte ihm das kleine Kirschholzkästchen, in dem ein goldener Kompass verborgen lag. »Der ist für dich, damit du mich findest.«
    »Ich werde dich finden«, wisperte er. »Geh! Schnell!« Dann zog er sich langsam zurück. Clara blieb allein in der hellen Morgensonne stehen, am menschenleeren Kai. Sie blinzelte in den azurblauen Himmel. Sie blinzelte hinaus in diesen Fischerort, hinauf zur kalkweißen Santa-Maria-Kirche. Sie hörte die Glocken läuten, sah all die Gassen, die sich wie Schneisen zwischen den weiß getünchten Häusern hindurchschlängelten. Sie hörte das wohlige Schnurren der getigerten Katzen, die sich auf den niedrigen Felssteinmauern sonnten. Dies war der Ort ihres Sommers. Dies war Jacques’ Heimat. In ihrer Hand lag ein kleiner, zusammengefalteter Zettel. Sie würde ihn an Bord öffnen. Draußen auf dem Meer. Unter dem weiten Firmament, das alles und jeden, das gesamte Universum, ihrer beider Zuhause und ihre Freundschaft umspannte.
    Sie drehte sich um, griff nach den Koffern und rannte, gerade noch rechtzeitig, über die Rampe an Bord des Dampfers, dessen bunte Wimpel aufgeregt im Wind flatterten. Die Dampfmaschine surrte unter den Holzplanken auf Hochtouren. Die Taue wurden eingeholt. Das Schiff bewegte sich aufs offene Meer hinaus.
    Clara hatte sich zwischen den winkenden Passagieren hindurch bis zur Reling gekämpft, um Jacques ein letztes Mal zu sehen. Er war auf die Kaimauer geklettert und hielt, mit seinem Hut winkend, nach ihr Ausschau.
    »Bis bald!«, hatte sie gerufen.
    »Bis bald!«, hatte er geantwortet.
    »Bis bald«, flüsterte Clara und zog die Paddel in den alten Kahn. Hier zwischen den Seerosen wollte sie Daria ihren Brief schreiben. Ihre drei Jahre ältere Freundin sollte ihr sagen, ob das die Liebe war. Sie sollte ihr von Jacques erzählen, wenn er zum Haus auf den Felsen kam und Wein brachte. Sie sollte ihn jedes Mal
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