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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Autoren: Craig Russell
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getötet?«
    »An den meisten Tagen fange ich sehr früh morgens mit der Arbeit an. Das ist ein Teil des Bäckerhandwerks, Herr Fabel. Mein halbes Leben lang habe ich zugesehen, wie die Welt um mich herum langsam erwachte, während ich das Brot, die älteste und lebenswichtigste Speise, für den kommenden Tag backte. Sogar nach all den Jahren liebe ich es, wenn im ersten Morgenlicht der Geruch frisch gebackenen Brotes aufsteigt.« Biedermeyer war kurzfristig vom Zauber dieses Moments in seiner Erinnerung übermannt. »Jedenfalls ist meine Arbeit, je nach Schicht, oft früh beendet, und ich habe den größten Teil des Nachmittags für mich. Diese Freiheit habe ich genutzt, um Paulas Schritte am nächsten Tag zu beobachten. Sie waren untypisch, denn sie hatte ja Geburtstag. Am folgenden Tag, einem Schultag, bot sich, während ich sie im Auge behielt, plötzlich eine Gelegenheit, als sie die Hauptstraße von ihrer Schule zu ihrem Elternhaus überquerte. Ich musste eine Entscheidung treffen und hatte große Angst, erwischt zu werden, aber Wilhelm sagte: ›Nimm sie jetzt mit. Es ist in Ordnung, du riskierst nichts. Beende ihre Geschichte nun.‹ Ich antwortete Wilhelm, das sei unrecht und ich würde dafür bestraft werden. Aber er versprach, mir ein Zeichen zu geben. Etwas, das mir den Beweis lieferte, dass ich das Richtige tat und alles gut ausgehen würde. Und, Herr Fabel, er gab mir wirklich ein Zeichen, dass er mein Schicksal, Paulas Schicksal, das von uns allen kontrollierte. Sie hielt nämlich ein Exemplar des ersten Bandes unserer Märchen in der Hand. Also folgte ich seinem Rat. Es ging sehr schnell und war ganz einfach. Ich ergriff sie auf der Straße, ließ sie von dieser Welt verschwinden, und ihre Geschichte war beendet.« Seine breiten Züge ließen Wehmut erkennen. Dann kehrte er rasch in die Gegenwart zurück. »Ichmöchte nicht auf die unerfreulichen Details eingehen, aber Paula hat wenig von dem gespürt, was sich abspielte. Wie Sie hoffentlich wissen, bin ich nicht pervers, Herr Fabel, und das war nicht der Grund, weshalb ich ihr ein Ende machte. Ich habe ihre Geschichte beendet, weil Wilhelm mich dazu aufforderte. Er sagte, ich solle sie vor dem Übel der Welt beschützen, indem ich sie daraus entferne. Und das habe ich so rasch und unter so wenig Schmerzen für sie wie möglich getan. Sogar nach all der Zeit werden Sie sich davon überzeugen können, wenn Sie die Leiche bergen. Und ich stehe zu meinem Versprechen, dass ich Ihnen mitteilen werde, wo genau sie zu finden ist. Aber noch nicht.«
    »Wilhelms Stimme. Sie sagten, Sie hätten ihn lange nicht mehr gehört. Wann war das letzte Mal gewesen? Haben Sie schon vorher jemanden getötet oder verletzt?«
    Das Lächeln verschwand wieder. Und diesmal wich es Schmerz und Trauer in Biedermeyers Miene. »Ich habe meine Mutter geliebt, Herr Fabel. Sie war wunderschön und klug, und sie hatte üppiges rotblondes Haar, das nach Äpfeln roch. Das ist fast alles, woran ich mich erinnere. Daran und an ihre Stimme. Sie sang mir vor, wenn ich im Bett lag. Ihre Sprechstimme ist mir nicht im Gedächtnis geblieben, nur ihre Gesangsstimme. Und ihr herrliches langes Haar, das nach Äpfeln duftete. Dann hat sie aufgehört zu singen. Ich war zu jung, um den Grund dafür zu verstehen, aber sie sang mir kaum noch etwas vor, und dann war sie verschwunden. Sie ist an Krebs gestorben, als sie dreißig und ich vier Jahre alt war.«
    Er schien auf einen Kommentar, Mitgefühl oder Verständnis zu warten.
    »Fahren Sie fort«, meinte Fabel nur.
    »Sie kennen die Geschichte, Herr Fabel. Sie müssen die Märchen gelesen haben, während Sie meiner Spur gefolgt sind. Mein Vater hat wieder geheiratet. Eine strenge Frau. Eine falsche Mutter. Eine grausame, böse Frau, die mich zwang, sieMama zu nennen. Mein Vater hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus praktischen Gründen. Er war ein sehr praktischer Mann. Als Erster Offizier auf einem Handelsschiff war er monatelang fort und konnte sich nicht um mich kümmern. So verlor ich eine wunderbare Mutter und erhielt eine böse Stiefmutter. Verstehen Sie? Verstehen Sie mich endlich? Meine Stiefmutter zog mich auf, und ihre Grausamkeit nahm zu. Papi bekam dann einen Herzinfarkt, und ich blieb allein mit ihr zurück.«
    Fabel nickte. Biedermeyers Wahnsinn war monumental. Ein riesiges, kunstvolles Gebäude, das durch eine komplizierte Geisteskrankheit entstanden war. Im Schatten eines riesigen Mannes mit einem riesigen Wahn sitzend,
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