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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Schustek mit Scheibenwurst, der Schnapsladen mit Kaugummi. Sie wippt in den Knien, wenn sie sich versprochen hat und gesagt, daß Neger eben Neger sind, sie wippt in den Knien und bewegt die aufgestellten Handflächen wie schiebend gegen Gesine und sagt: O. K.! O. K.!
    Auf der zweiten Seite der Zeitung ist ein Bild, das einen amerikanischen Piloten zeigt, der auf einer Karte erklärt, wo er zwei nordvietnamesische Piloten abgeschossen hat; man sieht ihn im Profil, seine Lippen von den Zähnen gezogen, er scheint schlapp und befriedigt zu lächeln. Die amtlichen Toten der Amerikaner stehen heute auf der zwölften Seite, sieben Zeilen ohne Zusammenhang mit den Nachrichten darüber. »Ein Mann aus Long Island unter den Toten« sagt die Überschrift. In der Meldung sind es dann achtundzwanzig.
     
    Marie sagt:
    – Meine Zöpfe sind nicht deine Zöpfe, und ich schneide sie ab, wann ich will.
    – Mein Großvater war wohlhabend.
    – Mrs. Kellogg rasiert sich.
    – Ich kann Blut sehen. Ich will Ärztin werden.
    – Meine Mutter denkt, daß die Neger gleiche Rechte haben, und da hört sie auf zu denken.
    – Neger haben auch einen anderen Körperbau als wir.
    – Präsident Johnson ist in der Hand des Pentagons.
    – James Fenimore Cooper ist der Größte.
    – Mein Vater war Delegierter bei der Internationalen Fahrplankonferenz in Lissabon. Er vertrat die Deutsche Demokratische Republik.
    – Düsseldorf-Lohausen ist eine Drehscheibe des internationalen Luftverkehrs.
    – Meine Freunde in England schreiben mir zwölfmal im Jahr.
    – Meine Mutter ist im Bankfach.
    – Meine Mutter ist aus einer Kleinstadt an der Baltischen See, man muß sie das nicht fühlen lassen.
    – Meine Mutter hat die schönsten Beine auf dem ganzen Fünferbus, oberhalb der 72. Straße.
    – Väter haben so einen verhungernden Blick.
    – Bring our boys home!
    – Schwester Magdalena ist eine Sau.
    – John Vliet Lindsay ist der Größte.
    – Meine Mutter fliegt immer mit mir in derselben Maschine, damit wir zusammen sterben.
    – Wenn John Kennedy lebte, wäre alles besser.
    – Meine besten Freunde sind Pamela, Edmondo, Rebecca, Paul und Michelle, Stephen, Annie, Kathy, Ivan, Martha Johnson, David W., Paul-Erik, Bürgermeister Lindsay, Mary-Anne, Claire und Richard, Mr. Robinson, Esmeralda und Bill, Mr. Maxie Fruitmarket, Mr. Schustek, Timothy Shuldiner, Dmitri Weiszand, Jonas, D. E. und Senator Robert F. Kennedy.
    – Meine Mutter kennt den schwedischen Botschafter.
    – Heirate doch, aber ich will keinen Vater.
    – Ich kann Spanisch besser als meine Mutter.
    – Nach zwei Jahren wollte meine Mutter zurück nach Deutschland, und ich habe gesagt: Wir bleiben.
     
    Unter den nationalen Nachrichten verweist die New York Times nun noch auf den Tod eines Großindustriellen, der 1895 als Laufjunge mit anderthalb Dollar pro Woche angefangen hat und mit einem Vermögen von zweieinhalb Milliarden Dollar starb, und die Zeitung widmet seinem Andenken über zweihundert Zeilen.
    Das Kind geht an der gläsernen Wand des Restaurants vorbei. Sie hat den Kopf nicht gewandt, geht weiter inmitten des Gedränges aus Eltern und Abschiedsverhandlungen. Sie ist mager geworden, ihre Haut ist trockengebrannt. Sie sieht älter aus als zehn Jahre. Sie trägt die Viet Nam-Plakette am Kragen ihrer Windjacke. Ihre Zöpfe schwenken ein wenig zu den Seiten, wenn sie in den Glasscheiben des Ausgangs hinter sich zu sehen versucht. Sie bleibt stehen und wendet sich um, ohne daß ihre linke Schulter unter Gesines ausgestreckter Hand weggleitet.
    Ich habe dich gesehen: sagt sie, alle Silben betonend, alle Worte gleich langsam. Sie wiederholt: I saw you, und diesmal liegt ein einzelner, triumphierender Sopranton auf dem Wort für gesehen. Sie sieht ihrem Vater nicht ähnlich.

26. August, 1967 Sonnabend
    Zwei Unteroffiziere der Armee sind verhaftet, weil sie Herrn Popov von der Sowjetischen Botschaft und Herrn Krejew von den Vereinten Nationen geheime Dokumente übergeben haben, in Supermärkten, in Restaurants, ganz wie in den Filmen, und die Herren sind zu Luft außer Landes.
    Bei Bombenangriffen in Nord-Viet Nam kamen die U. S. A. China bis auf 29 Kilometer nahe, und sie verloren das 660. Flugzeug, und der Kriegsminister sagt den erstaunten Senatoren: Mit Bomben kriegen wir die nicht an unseren Tisch.
    Die Preise sind so gestiegen, im Juli mußten wir 4,6 Prozent mehr für Obst und Gemüse bezahlen als im Juni, und ein Mitglied der amerikanischen Nazipartei hat seinen
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