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Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn
Autoren: Leon Garfield
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gehst du nicht auf Grund?« Dann vernahm ich die Greifseile, die von Schiff zu Schiff geworfen und festgemacht wurden. Ich hörte Männer an Bord klettern: fünfzehn, zwanzig, ja sogar dreißig zählte ich, bis mir der Gedanke kam, daß hier etwas nicht stimmte.
    Denn keiner von ihnen sprach ein Wort. Nur das Tapptapp, als ihre Füße auf dem Deck landeten, dann nichts. Waren sie so vom Sturm geschlagen und zugerichtet, daß sie nicht mehr die Kraft hatten zu danken, zu reden?
    Eine große Unruhe schien auf dem Schiff zu liegen, und die Männer der Charming Molly verstummten ebenso wie die Fremden. Es war eine sehr bittere Stille, als ein halbes hundert Herzen beim Anblick erstarrten, wen sie da gerettet hatten.
    »Nein, du großer Gott!« schrie eine einzelne Stimme –
    Wie zur Antwort kam ein knatterndes, tückisches Dröhnen, als zwischen dreißig und vierzig Musketen und Pistolen in die Bäuche, Köpfe, Herzen und Lungen der Retter abgefeuert wurden. Eine große Anzahl fiel sofort schwerfällig wie die Säcke und stürzte zwischen die Beine und Füße, die nicht schnell genug waren, sie zu vermeiden. Dann begannen die, die nicht getroffen waren, verzweifelt umherzulaufen, von Seite zu Seite oder über Seilrollen zu springen, bis die zu große Eile ihren unseligen Lohn brachte.
    Anfänglich gab es fürchterliches Kreischen und Schreien und Wüten gen Himmel, dann nahm das ab, als sich das Bedürfnis verringerte und die ermordeten Seeleute verstanden, daß es für sie nichts mehr gab als den Tod. Ein paar übrige Stimmen riefen Frauennamen mit wehmütiger Inbrunst, bis auch ihnen ein lauter und vollständiger Punkt gesetzt wurde. Fünf oder sechs Pistolenschüsse beendeten das Ganze, dem jedesmal das übliche Grunzen und der Fall folgte.
    Ein furchtloser Junge hätte sich in dieses Handgemenge gestürzt und wäre vielleicht auch am Leben geblieben, um davon zu erzählen. Vielleicht. Er hätte mit Zähnen und Nägeln gekämpft und dem Feind geschadet, bevor man ihm Einhalt gebot.
    Ein weniger furchtloser Junge blieb, wo er war, neun Zehntel seiner Gedanken nacktes Entsetzen – und das zehnte Zehntel der Wunsch, irgendwo anders in der Welt zu sein. Jeder feuchte Fleck, in den seine Hand hineinglitt, kam ihm vor wie Blut, obwohl ganz sicher nur sehr wenig vom Deck in den Laderaum getropft ist. Denn die lecken Überreste wurden sehr schnell ins Meer befördert – manchmal zwei und drei zugleich, so daß man schwer feststellen konnte, wie viele es einmal gewesen waren.
    Ich glaube, etwa vierzig, von denen nicht einer – nicht einer, soviel ich weiß – diese letzte Misere überlebt hat, die aus dem Sturm geboren war.
    Das Schiff war von Piraten gekapert.

II
    Wir leben in einer bösen Welt, in der Piraten und ihresgleichen naturgegeben sind. Es heißt jedoch, daß die meisten von ihnen recht arme Teufel von nicht allzu großer Bosheit und nicht sehr gewillt sind, ihre Seelen mit Mord zu beladen. Aber in und unter diesen plündernden Lämmern jagen die furchtbaren Wölfe – Mannschaften so tief in Verdammnis, daß sie über die gesamte Seefahrt einen schwarzen Schatten werfen, denn sie segeln unter dem Zeichen des Teufels und ihre Schiffe riechen nach Blut. Es war eine solche Crew, die die Charming Molly geentert hatte.
    Es war schon beinahe dunkel, als sie mich aus meinem Laderaum heraushoben, die Sonne ging voraus nach Steuerbord unter und färbte den Himmel so rot wie das Deck. Ich erregte kein großes Aufsehen, als ich kam, nicht mehr als sechs Mann wandten sich um und starrten, als sei ich der letzte Gang einer Mahlzeit, die sie beendet wähnten. Ihre Gesichter waren mehr ermattet als böse und schwarz von vieltägigen Bärten. Sie trugen zerlumpte und schmutzige Kleidung und sahen gegen das riesige und glänzend weiße Segel der Charming Molly noch schmutziger aus, denn sie waren bereits im Takelwerk und auf den Rahen und überall über das ganze Schiff, mit suchenden Händen und Augen, die forschten, ob ihr Fang sich lohnte. Die kräftige Brise, die über das Deck wehte, schien mir direkt durch den Kopf zu fahren und mich betrunken zu machen, daher sah ich zwei Mann für einen und acht für vier, und ich konnte mich nirgends hinwenden, um Gnade zu erflehen oder zu fliehen.
    Dann kam ein kleiner Mann geradewegs vom Achterdeck heruntergestiegen, um mich näher zu betrachten. Ich hielt ihn für den Kapitän, denn er hatte eine sehr knappe Sprache und wäre elegant erschienen, wenn er nicht etwas schimmelig
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