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In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück

Titel: In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Autoren: Kerstin Gier
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Mimi nur und schob mich hinein. Nur um sicherzugehen, dass ich nicht auf denallerletzten Metern noch einmal umschwenkte, hatte sie mich bis vor die Tür gebracht. »Ich bin im Laden, wenn du mich brauchst. Und lass dein Handy eingeschaltet.«
    Frau Karthaus-Kürten bot mir nicht an, mich auf die Couch zu legen. Wir saßen uns vielmehr an ihrem Schreibtisch gegenüber, wie bei einem Bewerbungsgespräch. Auf dem Schreibtisch standen gerahmte Bilder von einem Mann, einem kleinen Jungen, einem zotteligen Hund und von ihr selbst. Ich musste mich ein bisschen verrenken, um die Bilder zu betrachten, denn sie standen mit der Rückseite zu mir.
    »Niedlich«, sagte ich, obwohl der kleine Junge einen Erbsenkopf und Schweinsäugelchen hatte.
    Frau Karthaus-Kürten strich sich durch ihre Haare und lächelte stolz. »Das ist mein Sohn Keanu.«
    Herr im Himmel. Ein Keanu mit hellblondem Pottschnitt. Keanu Karthaus-Kürten. Was sollte denn aus diesem armen Jungen einmal werden?
    Frau Karthaus-Kürten betrachtete noch ein Weilchen versonnen das Bild, dann sagte sie: »Ihr Schwager sagte mir, dass Ihr Mann überraschend an einem Herzinfarkt verstorben ist. Das ist ein schwerer Schicksalsschlag für Sie. In der Psychotherapie sprechen wir von Traumatisierung. Es ist ganz richtig, dass Sie sich Hilfe gesucht haben.«
    Ja, das glaube ich Ihnen gern.
    »Sicher weinen Sie viel.«
    Ich nickte. Ja, ich weinte viel. Aber vor Frau Karthaus-Kürten würde ich nicht eine einzige Träne vergießen, das stand mal fest. Obwohl sie recht einladend eine Box mit Taschentüchern in meiner Reichweite platziert hatte.
    »Darf ich fragen, wie alt Ihr Mann war?«
    »Er ist im Oktober dreiundfünfzig geworden. Eine Woche vor seinem Tod.«
    »Dreiundfünfzig?« Kerstin K. Karthaus-Kürten zog die Augenbrauen hoch. Durfte sie das überhaupt? Als Therapeut sollte man doch als Erstes lernen, seine Mimik zu kontrollieren. »Und Sie sind …?«
    »Ich werde im April siebenundzwanzig.« Aber ich wette, das steht auch in meiner Karteikarte, du doofe Kuh.
    »Das macht dann einen Altersunterschied von …« Sie schob die Zunge zwischen die Zähne und strich sich wieder durch die tadellos sitzende Frisur.
    »Einen Altersunterschied von sechsundzwanzigeinhalb Jahren«, sagte ich nach ein paar Sekunden. Himmel, die Frau konnte nicht mal simple Rechenaufgaben lösen. Unwahrscheinlich, dass sie unter diesen Umständen mein kompliziertes Seelenleben begreifen würde.
    »Und Sie waren wie viele Jahre zusammen?«
    »Fünf. Vier davon verheiratet.«
    »Hmhm.« Sie machte sich mit Bleistift einige Notizen. Dann sagte sie: »Möchten Sie über Ihren Vater sprechen?«
    Natürlich. Das war ja zu erwarten gewesen. Junge Frau, älterer Mann – dazu fällt den Leuten sofort das Wort »Vaterkomplex« ein. Allenfalls noch »Aufenthaltsgenehmigung«.
    Nichts gegen Vorurteile. Ich hatte selber massenhaft davon. Zum Beispiel gegenüber Psychotherapeutinnen, die sich in der Minute viermal das Haar nach hinten strichen. Oder gegenüber Leuten, die ihre Kinder Keanu nannten und / oder ihnen achtsilbrige Doppelnamen gaben. Außerdem gegenüber Züchtern von Kampfhunden und Leuten, die ihren Wagen zweimal in der Woche wuschen. Aber man sollte sich schon darüber im Klaren sein, dass man mit seinen Vorurteilen meilenweit neben der Wahrheit liegen kann. Vor allem, wenn man sich Therapeut nennt.
    Ich habe keinen Vaterkomplex, und ich hatte auch nie einen.
    Ich habe aus Liebe geheiratet.
    Frau Karthaus-Kürten seufzte, wohl, weil ich nichts sagte. Therapeuten dürfen doch nicht seufzen! Was würde sie als Nächstes tun – die Augen verdrehen? Sie war ganz sicher eine Anfängerin. Oder einfach nur schlecht. Deshalb hatten Mimi und Ronnie auch so kurzfristig einen Termin bei ihr bekommen können. »Vielleicht überlegen wir noch einmal gemeinsam, warum Sie hier sind, Frau Schütz.«
    »Also sicher nicht wegen meines Vaters«, sagte ich und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen. »Ich denke, ich spreche im Namen all meiner Geschwister, wenn ich sage, dass er nicht die Sorte Vater ist, wegen der man Komplexe bekommt. Er ist ein lieber, freundlicher, ein bisschen verschusselter Ministerialrat im Ruhestand, und überhaupt bin ich dafür, dass wir meine Kindheit überspringen, denn die gibt, was meine derzeitige Situation betrifft, gar nichts her. So psychotherapeutisch gesehen, meine ich.«
    Frau Karthaus-Kürten spielte mit ihrem Bleistift. »Vielleicht möchten Sie mir erzählen,
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