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In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land
Autoren: Jan Weiler
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Lesung in einer schönen und großen Buchhandlung. Die Lübecker gelten als schwierig, dies wurde mir vorher zugetragen. Aber meine Furcht vor schweigenden, die Arme vor der Brust kreuzenden Hanseaten erweist sich als unbegründet, die Menschen hier lachen an den richtigen Stellen und sind sehr freundlich. Sie wollen anschließend mehrheitlich nur eine Unterschrift ins Buch, eher keine ausführlichen Widmungen. Am Vortag in Rostock war das anders. Dort bat mich eine junge Frau namens Claudia um Unterschrift und folgenden Satz: «Für Petra zur Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit in Perugia.» Dienstleistungsbeflissen und höflich sagte ich: «Ich hatte aber keine gemeinsame Zeit mit Petra in Perugia.» Darauf Claudia: «Na und? Aber ich.»
    «Dann schreiben Sie doch vielleicht die Widmung», sagte ich. Zack, da war sie schon beleidigt. Ich schlug vor: «Für Petra zur Erinnerung an Perugia und Claudia.»
    «Na gut.»

    Halb eins im Bett. Noch schnell Guido Westerwelle im Fernsehen getroffen. Die Bundestagswahl ist vorbei. Jetzt muss eine Koalition gefunden werden, und Westerwelle wird nicht müde, seine Ablehnung «dieser SPD» in jedes Mikrophon zu schleudern. Er tut gerade so, als wollten alle unbedingt mit ihm koalieren. Will aber niemand. Möglich, dass die anderen müssen, aber wollen wollen sie deswegen noch lange nicht. Das ist vielleicht die Tragik der FDP.
    Vor dem Einschlafen reisen die Gedanken von Westerwelle zu meinem neuen weißen Anzug. Ich habe ihn mir vor ein paar Wochen anlässlich der Einladung zu einer sogenannten Mottoparty («Dress in white!») zugelegt. Ich hasse Mottopartys, und eigentlich soll mir der rechte Hoden abfallen, wenn ich auf einer auftauche. Leider habe ich nicht genug Sozialkontakte, um mich an derartige Beschlüsse halten zu können.
    Der weiße Anzug steht mir komischerweise hervorragend – und er hat Nano-Technik. NANO-TECHNIK. Wenn man Flüssigkeit auf den Anzug schüttet, dann perlt sie einfach ab, als habe sie Angst vor dem Anzug. Flüssigkeit – sogar Salatöl – will nicht auf diesen Anzug. Das ist für einen weißen Anzug natürlich praktisch. Als ich ihn also auf der Party trug und erwähnte, dass er NANO-TECHNISIERT sei, schütteten mir den ganzen Abend enthirnte Kumpels Bier und Rotwein auf die Jacke und erfreuten sich am Perl-Effekt, der sich keineswegs abnutzte und übrigens sogar mit Zigarettenasche funktionierte. Ich blieb trocken, sauber und fröhlich und fühlte mich wie eine Kreuzung aus Tom Wolfe und Jean Pütz.

Wyk. Das Husten im Kurgartensaal
    21. September 2005
    Früh raus, um nach Wyk auf Föhr zu fahren. Föhr ist die Insel südlich von Sylt, neben Amrum und oberhalb von Pellworm. Nordfriesland. Jetzt raten Sie mal, wie lange man mit dem Zug von Lübeck nach Wyk braucht? Da kommen Sie nie drauf. Sechs Stunden und achtunddreißig Minuten. Für einhundertzwanzig Kilometer. Nicht zu glauben. Ohne jemals im Kongo gewesen zu sein, ahne ich, dass die Bahnstrecke von Brazzaville nach Makunda Tsiaki besser ausgebaut ist als das Regionalbahnnetz der Deutschen Bahn in Schleswig-Holstein.
    Auf der Fahrt hat man viel Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel darüber, dass wir unser Land nicht genug kennen. Keine Ahnung, ob Engländer alle mal nach Cornwall oder nach Bristol fahren und ob alle Schweden Småland kennen. Jedenfalls glaube ich, dass wir Deutschen uns nicht gut genug in Deutschland auskennen. Ich zum Beispiel habe mehr italienische Städte samt Kirchen und Museen besucht als deutsche, und ich glaube, dass dies bei vielen meiner hochinteressierten und weitgereisten Landsleute genauso ist. Saarbrücken? Hä? Sächsische Schweiz? Öh. Schwäbische Alb? Nä!
    Ich hätte dazu einen Vorschlag: Alle Jugendlichen müssten während ihrer Schulzeit insgesamt vier Monate auf Kennenlernreise. Einen Monat in den Osten, einen Monat in den Norden, einen in den Süden und einen Monat in den Westen. Mit Führungen. Eine ganze Reiseindustrie könnte so entstehen, weit über die existierende Jugendherbergskultur hinaus. Am Ende könnte jeder sagen, dass er sein Land mal vom Wattenmeer bis zu den Alpen gesehen hat. Und jeder könnte sich für oder gegen Deutschland entscheiden, weil er es kennt.

    Natürlich mache ich diesen Vorschlag nur leise, denn es ist peinlich, daran zu erinnern, dass wir entwicklungsfähige Kenntnisse unseres Landes und unter anderem deshalb kein ausgeprägtes Nationalbewusstsein haben. Man gerät gleich in so eine völkische Ecke. Ich ziehe ihn also
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