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In keinem Universum

In keinem Universum

Titel: In keinem Universum
Autoren: René Jossen
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vor dem
Zug, im Wald und beobachtete ihn durch die offene Tür. Sie lächelte
sanft und er konnte einige ihrer perfekten, weissen Zähne sehen.
Ihre Augen waren entspannt, fast schläfrig und sie drehte sich
langsam von ihm weg.
    Mit einem Ruck fuhr die Eisenbahn wieder langsam weiter. Das
Mädchen bewegte sich noch immer wie im Schlaf wandelnd von ihm weg.
Ihre Hand erhob sich langsam und schien ihm zuzuwinken. Eine
Verabschiedung, ein Ruf? Er wusste und verstand es nicht.
    Die Tür schloss sich nicht. Der Zug raste wieder durch die
Nacht, der warme Fahrtwind schoss durch die Öffnung und brachte
Laub und waldigen Dreck mit sich. Blättrige Äste kratzten am Waggon
entlang und stiessen durch die offene Tür wie gierige Hände. Es
war, als würden sie ihn zu sich rufen. Versuchen, ihn aus dem Zug
zu locken und ihn beim Namen nennen.
    In diesem Moment wurde es ihm plötzlich bewusst: Er hatte keinen
Namen.
    Wie aus einer Trance drückte er sich schwerfällig aus dem
Polstersessel und stolperte unerklärlich benommen zur offenen Tür.
Noch immer zischte ihm der Wind, die Äste und das Laub entgegen.
Doch schon mit dem ersten, kurzen Blick aus dem Zug veränderte sich
sein Verständnis der Situation vollkommen.
    Die Bahn stand still. Der Wind war kein Fahrtwind. Es war
einfach nur ein starker Wind. Dieser war zwar wirklich unglaublich
stark, aber trotzdem nur ein Wind. Er beugte sich durch den Eingang
nach draussen, schaute dem Zug entlang und versuchte dessen Anfang
auszumachen. Offensichtlich waren die Wagen entgleist und durch den
Wald irgendwo in einen Baum gerast. Er erkannte keine Lok. Die
Waggons vor ihm waren auf bizarrste Weise zerknüllt und schienen
sich etwas weiter entfernt in einen grossen, schattigen Baumstamm
zu graben. In den Stamm eines Baumes, der sich offensichtlich nicht
voller Ehre wegdrehen wollte.
    Ein Blick in die andere Richtung zeigte wieder dieses Mädchen.
Engelsgleich erschien sie fast leuchtend und weit entfernt vor
seinen Augen. Er sprang auf den kühlen, erdigen Waldboden und
begann ihr nachzugehen. Sie folgte ihrerseits offenbar dem Weg
zurück, den sie mit der entgleisten Bahn zuvor gekommen waren. Er
erkannte in der Dunkelheit, wie sich die tiefen, von den kantigen
Zugrädern gegrabenen Furchen durch den Wald zogen. Anscheinend war
dieser tonnenschwere Metallwurm schon die ganze Zeit ohne Gleise
unterwegs gewesen.
    Unerwartet hastig drehte sie ab und begann zu rennen. Er
versuchte ihr zu folgen bemerkte aber, dass er immer weiter
zurückfiel. Ihre wirre Reise führte durch den Wald, hinaus auf eine
weite Wiese. Über ihnen zogen schwarze, fransige Wolken vor dem
sonst klaren und tiefen Sternenhimmel. Die hohen Pflanzen und
Gräser bewegten sich wellend im Wind. Böen von links, rechts und
von vorne. Ein wunderbares Gefühl, ein wunderbarer Anblick.
    Sie blieb abrupt stehen, schien etwas zu beobachten. Er hatte
sie schon fast aufgeholt als sich vor ihr plötzlich eine grosse,
weiss leuchtende Kugel vom Horizont in den Himmel riss. Er wusste,
das war der Mond. Als aber eine zweite, dritte und noch weitere
Sphären auftauchten war dieses Wissen plötzlich so falsch, wie
alles andere in dieser Nacht. Die perfekt runden Gebilde stiegen
weit in den Himmel auf und rasten über seinen Kopf. Er drehte sich
nach ihnen um, folgte mit den Augen und bemerkte schlussendlich,
dass sich hinter ihm ein scheinbar unendlicher Abgrund aufgetan
hatte. Kein Wald mehr, kein Zug mehr.
    Plötzlich stand sie neben ihm, nahm seine Hand und schaute ihm
tief und voller Liebe in die Augen. Ihr Gesicht war perfekt. Sie
war die Frau seiner Träume. Die Schönste, die Perfekteste. Er zog
sie an sich und spürte wie sich ihre Körper berührten. Er spürte,
wie weich und zart sie war. Es schien, als wäre ihr Körper selbst
eine dieser entfernten, dunklen Wolken.
    Ihr Lippen kamen seinen immer näher und er spürte, wie sie beim
Kuss verschwanden. Sie war weg, verschwunden im Nichts dieser
Nacht. Und er stand alleine auf diesem kleinen Grasfleck mitten im
Nirgendwo umrahmt von Unendlichkeit.
    Jetzt, während er in genau diese Unendlichkeit stürzt, sieht er
wieder eine dieser Kugeln. Sie strahlt hell und weiss in der Mitte
des Himmels. Er spürt noch immer diese Wärme und er scheint ihr
näher zu kommen. Im Augenwinkel erkennt er, wie der Morgen
anbricht. Der helle, wolkenlose Himmel ist so blau wie die Augen
des Mädchens. Wie ein futuristischer, riesiger Scheibenwischer
schabt sich der Tag über das Firmament. An
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