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In der Hitze der Stadt

In der Hitze der Stadt

Titel: In der Hitze der Stadt
Autoren: Roger Aeschbacher
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zog dann das Band auch an den Leuten entlang, die der kleinere Meier in Schach hielt.
    Im so freigehaltenen Raum waren nur wenige Personen. Die Mutter hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Asphaltboden und stützte sich mit beiden Händen so auf, dass sie ganz nah zum Menschen kam, der vor ihr lag.
    Irgendwie erinnerte die Frau an die Statue der kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen, einzig, dass ihr Gesicht nicht mehr ansehnlich war, sondern von Schmerzen verzerrt, die Augen überflutet vom Tränenstrom. Ihr Blick war glasig, kam von weit her, verlor sich zugleich im Nichts. Ihr Mund stand offen, der Unterkiefer zitterte, aber es kam kein Laut mehr von ihr.
    Eine junge Frau – es sind immer junge Frauen – hatte sich zu ihr gebückt. Sie hatte der verzweifelten Mutter eine Hand auf den Oberarm gelegt. Die andere hielt sie vor den eigenen offenen Mund. Ihre Augen waren weit.
    Vor den zwei Frauen machten zwei Sanitäter, ein junger und ein etwas älterer, ihre Arbeit. Sie kümmerten sich um einen ausgestreckten jugendlichen Körper, den Kommissar Baumer hinter den knienden Figuren kaum erkennen konnte. Das musste Mina sein. Die beiden Retter taten ihren Job, so wie es wohl im Lehrbuch für Notfallmedizin stand. Zu ihrer Unterstützung hatten sie einen Passanten rekrutiert, der eine Infusion hochhielt. Der junge Mann schien gefasst und geschockt zugleich. Er war sehr bleich, schaute immer wieder ängstlich um sich, so als würde er verfolgt, als bräuchte er selbst Hilfe.
    Die zwei uniformierten Samariter besprachen sich mit leisen Worten, die Köpfe eng beieinander. Dann stand der ältere der beiden auf. Im Gegensatz zu Baumer, dessen Haar nur sachte mit weißen Stoppeln verziert war, war dieser Mann komplett weißhaarig. Seine Bewegungen waren gemächlich und doch zielstrebig, wie die von alten Bauern im Oberbaselbiet. Er trat zum Passanten, den sie um Hilfe gebeten hatten. »Sie können die Infusion jetzt ablegen.«
    Der verstand nicht, hielt den Plastikbeutel mit dem Plasma tapfer weiter hoch.
    »Es hat keinen Sinn mehr«, erklärte der Mann in Sanitäteruniform dem unfreiwilligen Helfer. Er nahm ihm das Behältnis ab, drehte sich weg, um es abzulegen.
    Nun konnte Baumer das junge Mädchen erkennen.

    Mina.

    Sie lag auf dem Rücken, war wohl etwa um die 12 Jahre alt. Sie war dick eingepackt mit Goldfolie. Ihr Gesicht schien ruhig, die Augen blickten verloren irgendwo hinauf in den Himmel. Sie hatte das Antlitz einer kindlichen und traurigen Madonna. Ihre Haare waren pechschwarz, erschienen aber unwirklich dicht, als wären sie aus Plastik.
    Baumer trat näher. Erst jetzt erkannte er, dass sie ein Kopftuch trug. Einzig eine einzelne Strähne, die dem Mädchen flach auf der Stirn lag, lugte darunter hervor.
    »Ein Kopftuch, bei dieser Hitze?«, dachte Baumer automatisch, doch begriff er sogleich, dass das Mädchen eine junge Muslimin sein musste. Zwar war es bekleidet mit einem wild gemusterten rosaroten T-Shirt, aber eben auch mit einem dumpfen Rock, der ihm bis über die Knöchel reichte. Am Rocksaum schauten seine zierlichen Füße hervor. Einer steckte in einer leichten Sommersandalette, deren fluoreszierend grüne Farbe ins Auge stach. Der andere, es war nur ein filigranes Puppenfüßchen, war nackt. Eine leuchtende Sandale lag daneben.
    Baumer blickte auf die Mutter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass diese Frau selbst kein Kopftuch aufhatte. Sie war auch sonst nicht traditionell islamisch gekleidet. Sie trug normale Kleidung, also das, was Baumer für diese Jahreszeit als normal betrachtete – westliche sommerliche Mode: Ein ärmelloses T-Shirt und kurze, enge Caprihosen. Passable Mode für diesen unbändigen Sommer und anständig für diese aufgeklärte Stadt, diese Gesellschaft und dieses Land.

    Noch.

    Baumer fragte sich daher, ob diese Frau überhaupt die Mutter des toten Mädchens war? Ja, natürlich, das musste sie sein. Einerseits kann nur eine Mutter solche verzweifelten Schreie gebären, war er sich sicher. Andererseits bemerkte er trotz aller Verzerrung im Gesicht der Frau ganz bestimmte Ähnlichkeiten zwischen ihr und dem Mädchen. Die recht runde Nase, die hohe Stirn, insgesamt die schlanke Gesichtsform, die ganz zart gewölbten Lippen.
    Stefan Heinzmann hatte mittlerweile die Fläche um das Opfer komplett abgesperrt. Als er an Baumer vorbeikam, begrüßte er seinen Freund nicht. Der Wachtmeister schob ihn einfach in den von Gaffern freigehaltenen Raum hinein und schloss hinter ihm das Band.
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