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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Lebens. Über den Verlust meines Eigentums. Über den Verlust einer minutiös geführten Sammlung buntbedruckten Papiers.
    Dieser Gedanke verstärkte die perverse, seltsame Euphorie, die mich bereits vor den Schließfächern befallen hatte. War das Schock? Und konnte es ein Schock sein, wenn man imstande war, es als Schock zu benennen?
    Unten strömten Menschen in typischer Eile. Auch ich hatte es eilig, doch es war eine andere Art von Dringlichkeit. Eine Hast, die ich bis dahin noch nie gefühlt hatte. Ich hatte alles verloren, ja, doch zeitgleich tat sich ein Tor auf und ich erkannte einen neuen Weltraum, der sich mir hier anbot. Es interessierte mich nur noch, was die nächste Stunde brachte, die nächsten zehn Minuten, der nächste Atemzug. Was tun in einer Situation, die komplett keinen Sinn ergibt? Was tun mit einer Gleichung, die nur aus Unbekannten besteht? Was tun mit einem Leben, das plötzlich so schnell brennt wie ein Streichholz?
    Immer erst das Kuvert öffnen.
    Ungeduldig riss ich den Umschlag auf. Zum Vorschein kamen dreißig Tausendmarkscheine, ein undatiertes Ticket erster Klasse für einen beliebigen Zug nach Hamburg, die Visitenkarte eines gewissen Dr. Bertil Mårtensson, an deren Rückseite ein weiterer Schlüssel mit einem Klebeband befestigt war, ein britischer Reisepass und ein Taschenmesser mit einer Springklinge, auf der die Aufschrift Omophagia stand. Neugierig öffnete ich den Reisepass. Der eingeschriebene Name lautete Jeffrey Underhill. Das Foto zeigte einen Mann mittleren Alters, mit einem blonden Schnurrbart. Er war alles, nur nicht mir ähnlich.
    Ich drückte mit infantiler Befriedigung die kleine Taste an dem Messer und musterte die scharfe Klinge, die heraussprang. Ich zerschnitt damit die Fäden des Pakets und faltete das harte Papier auseinander. Vor mir lagen fünf alte Bücher, alle in festem, schmucklosen Einband, wie aus einem Antiquariat. Und auf ihnen lag ein Game Boy.
    Rätsel? Das hier war ein perpetuum mobile für Rätsel.
    Ich blickte auf die Menschen unten, die durch die Halle marschierten, oder sich bei Fahrscheinautomaten aufhielten. Meine Gedanken waren verschwommen und weich wie Gelatine. Gelangweilte, gähnende Passanten horteten sich vor dem gigantischen Fernsehmonitor, der inmitten der Eingangshalle von der Decke hing und gestrige Fußballergebnisse zeigte. Durch den Bahnhof hallte eine dieser unverständlichen Frauenstimmen und sagte die Eilzüge und ICEs an. Unter mir marschierte eine vielleicht fünfzigjährige Blondine mit einem gut fünfundzwanzig Jahre jüngeren Afrikaner in engem T-Shirt. Ihren Weg kreuzten zwei Polizisten — ein Mann und eine Frau — in diesen typischen sandfarbenen Hemden und mit weißgrünen Mützen.
    Ich sah auf den Game Boy vor mir. Dann wieder auf die Polizisten. War ich das Opfer eines verrückten Streichs? Vielleicht ging es nur darum, mir irgendein Verbrechen unterzuschieben und mich auch noch so zu navigieren, dass mein gesamtes Verhalten mich mehr und mehr belastete. Doch das war alles Unsinn — ich wusste es. Niemand hatte mit dieser Situation gerechnet, und nun strebten alle beteiligten Parteien emsig danach, mich in ihre Gleichung einzubeziehen. Währenddessen nahm ich das Spielzeug und schaltete es in Gedanken versunken ein. Nicht etwa, dass es in meiner Situation eine Rolle spielte, ob eine Speicherkarte mit Wario , Tertris oder Super Mario im Gerät steckte.
    Wäre nicht das einzige Sinnvolle, nun herunterzugehen und die beiden Polizisten anzusprechen? »Guten Tag, ich habe vor einigen Stunden versucht, eine Gruppe von thailändischen Zwangsprostituierten zu befreien, als ich Zeuge...« Zeuge von was, überlegte ich. »Auf jeden Fall war mein Hausmeister darin verwickelt... Und mein Nachbar. Jetzt habe ich einen Minibus mit vier Thailänderinnen ohne Schuhe an der Backe und ein Kuvert mit dreißigtausend Mark...«
    Mein Blick streifte das kleine Display, doch anstelle eines Spiels, baute sich vor mir in Sekundenschnelle lediglich eine Zeichenfolge auf:
     
    calling luxaeterna
    session in process
     
    Und schließlich:
     
    enter password now
     
    Ich schaltete das Gerät ab und zog die Speicherkarte heraus. Auf ihr befand sich nur die schlichte Aufschrift:
     
    SUPACHIP 12TB
     
    Das war definitiv nicht Super Mario. Ich steckte die Karte wieder hinein und schalte den Game Boy ein. Die Prozedur wiederholte sich. Wieder erschien der Satz.
     
    session in process
    enter password now
     
    Nachdenklich blickte ich auf das
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