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Im Sommer der Sturme

Im Sommer der Sturme

Titel: Im Sommer der Sturme
Autoren: Gantt DeVa
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inne, aber dann warf sie ihre Haare, die ihr fast bis zur Taille reichten, kurz entschlossen über die Schulter zurück. Der strenge Knoten musste warten, da sie den lang ersehnten Anblick nicht verpassen wollte. Sollte doch der Wind ihre Haare zausen, wie er wollte – sie wollte sich jedenfalls nicht den Tag verderben lassen, an dem vielleicht ihr neues Leben begann. Nach einem letzten Blick in den Handspiegel lächelte sie zufrieden und verließ eilig ihre Kabine.
    Kapitän Wilkinson nahm Charmaine gar nicht wahr, als sie das Oberdeck betrat, weil seine Blicke auf die Takelage gerichtet waren, wo einige Männer an der Webeleine nach oben kletterten, um die Segel auszurichten und die Raven auf das Anlegemanöver vorzubereiten. Sie ging davon aus, dass Mr. Harrington noch in seiner Kabine weilte, und suchte sich einen ruhigen Platz an der Reling.
    Ein paar Männer, die mit Teerarbeiten beschäftigt waren, beäugten sie, und als erste zotige Bemerkungen an ihr Ohr drangen, sah Charmaine verwundert an sich hinunter. Auch wenn ihr die Männer während der Reise hin und wieder nachgepfiffen hatten, waren sie doch nie aufdringlich geworden. War sie etwa unziemlich gekleidet? Da sie nichts feststellen konnte, wandte sie den Blick wieder dem Ozean zu, um endlich das Land zu erspähen. Als das Schiff plötzlich in den steifen Gegenwind drehte, wirbelten die Böen Charmaines offenes Haar durcheinander und pressten die Röcke eng gegen ihre Beine.
    Als einer der Männer pfiff, sah Mr. Wilkinson zur Reling hinüber. Verstohlen grinste er in sich hinein. Die Kleine gab sich ja redliche Mühe, die Grobiane nicht zu beachten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zu ihr hinüber. »Guten Morgen, Miss Ryan.«
    Erleichtert sah Charmaine ihm entgegen.
    Ihr strahlendes Lächeln, die erwartungsvoll leuchtenden Augen und die ungebärdigen Locken enthüllten Charmaines Schönheit, die dem Kapitän bisher entgangen war. Kein Wunder, dass seine Matrosen sich so aufführten.
    »Ich habe gehört, dass Land gesichtet wurde. Aber ich sehe es nicht! Oder sind die Inseln noch so weit entfernt, dass ich ein Fernglas brauche?«
    »Aber nein, Miss Ryan. Sie suchen sie nur auf der falschen Seite.«
    Verblüfft senkte Charmaine den Blick, doch Mr. Wilkinson nahm nur wortlos ihren Arm und führte sie zur Reling an der Steuerbordseite hinüber, wo er nach Südosten wies. Dort am Horizont war Land zu sehen.
    Der Kapitän kehrte an seine Arbeit zurück. Charmaine rührte sich nicht von der Stelle und beobachtete, wie der dunkle Fleck langsam größer wurde, bis blendend weiße Strände von einer Ausdehnung erkennbar wurden, die für eine einzige Insel viel zu groß zu sein schienen. Jenseits der Strände erstreckte sich Buschwerk und hohes Gras bis in die Schatten unter den hohen Palmen, Weiden und dem dichten Laubwerk. Charmaine bewunderte die Schönheit der unberührten Landschaft, als ihr plötzlich auffiel, dass sie noch kein Anzeichen einer menschlichen Siedlung gesehen hatte. Weder einen Hafen noch Häuser und erst recht keine Menschen. Sie sah sich um, weil sie den Kapitän fragen wollte, doch der war nirgendwo zu sehen. Also musste sie ihre Ungeduld noch etwas bezähmen. Inzwischen segelten sie parallel zum Strand an einer offensichtlich unbewohnten Insel entlang. Charmaine konnte sich lebhaft vorstellen, was Jean Duvoisin II. bei der Entdeckung dieses Paradieses gedacht hatte – herrlich unberührtes, freies Land. Ein friedlicherer Ort ließ sich auf Erden kaum vorstellen, dachte Charmaine und schloss daraus, dass dies unmöglich die größte Insel sein konnte. Eher war es eine der beiden anderen, die noch nicht besiedelt waren.
    Nach und nach wurden die Strände felsiger. Und bald begleiteten Klippen die Küste, die, je weiter sie in östlicher Richtung segelten, immer höher emporwuchsen. Anbrandende Wellen schleuderten die Gischt so hoch in die Luft, dass ihre feuchten Schleier bis auf das Deck der Raven wehten. Sie näherten sich einem Leuchtturm, der den nördlichsten Punkt der Insel markierte, und als sie die Stelle passiert hatten, glitt Charmantes Blick zu den Klippen, die sich in weitem Bogen nach rechts erstreckten und sich in der Ferne verloren.
    Es verging fast eine ganze Stunde, bis der Kapitän zusammen mit Joshua Harrington wieder an Deck erschien. »Wir umrunden gerade Charmantes«, erklärte er, »und werden in Kürze die Bucht erreichen.«
    »Welche Bucht?«, fragte Charmaine.
    »Der Hafen wurde in einer Bucht
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