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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman
Autoren: Carla Federico
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gefehlt hatte, würde sie eben jetzt einfordern und festhalten und nicht mehr hergeben – spät zwar, aber nicht zu spät.
    Sie seufzte wehmütig.
    Zarte Schleier des Seenebels stiegen auf, umhüllten den Fuß des Osorno, nicht jedoch seinen Gipfel. Dieser ragte aus dem Dunst hervor, als würde er über der Welt schweben. Immer tiefer fielen die Sonnenstrahlen; dunkel und abgründig färbte sich das eben noch türkis schimmernde Wasser des Sees, grau seine eben noch glitzernde Gischt. Nur der Gipfel des Osorno badete satt im Licht und strahlte rötlich auf, als blute er.
    »Du hast dich tatsächlich entschieden«, sagte Poldi wieder, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn es in meinem Leben so viel Klarheit geben würde wie in deinem – wie dankbar und froh wäre ich darüber! Du liebst Cornelius, nicht wahr? Du hast ihn immer geliebt.«
    »Ja«, erwiderte Elisa leise. »Ja, ich liebe ihn. Und ich weiß jetzt endlich, was ich tun muss.«

ERSTES BUCH
    Die Reise
1852
    1. KAPITEL
    H altet den Dieb!«
    Elisa öffnete träge die Augen. Ihre Lider waren schwer, die Stirn glänzte schweißnass. Die wenigen Schattenplätze im Hamburger Hafen waren vorhin heiß umkämpft gewesen, und sie hatte mit großer Mühe einen davon ergattert, doch mittlerweile brannte die Sonne senkrecht vom Himmel, so dass nirgendwo mehr Schutz vor ihrem gleißenden Licht zu finden war. Das Wasser schickte keine kühle Brise, sondern stand gräulich grün wie eine dicke, fischige Brühe.
    »Haltet den Dieb!«
    Die Stimme war trotz der Hitze erstaunlich lebhaft und riss Elisa aus ihrem Dösen. Bis vor kurzem hatte sie das Treiben im Hafen mit aufgerissenen Augen bestaunt, hatte ihren Blick nicht von den prächtigen Dreimastern, den ungeduldigen Auswanderern, den emsigen Hafenarbeitern lassen können. Doch die glühende Sonne hatte den Lärm zum Erliegen gebracht und sie schließlich schläfrig gestimmt.
    Geschäftig waren im Augenblick nur die Makler, Befrachter und Reeder aus dem Hause Godefroy & Sohn, die die Seetüchtigkeit der Hermann III. überprüften und die Beladung vorbereiteten – jenes Schiffs, das sie selbst bald besteigen würde. An einer Gruppe dieser Männer, die eifrig gestikulierend aufeinander einredeten, sah Elisa einen kleinen Jungen vorbeiflitzen.
    »Verflucht, so haltet ihn doch endlich fest!«
    Nun erblickte sie auch den Mann, der ihm nachhetzte. Er trug trotz des heißen Tages einen fleckigen Frack – so wie die meisten Auswanderer ihr bestes Kleidungsstück gewählt hatten, wussten sie doch nicht, wann sie es wieder würden wechseln können. Wahrscheinlich zählte der Verfolger des Knaben zu diesen.
    Fast hatte er ihn erreicht, wollte schon mit der Hand nach ihm greifen, da duckte sich der Junge wendig, schlug einen Haken und flüchtete sich in eine Menschentraube.
    Elisa, die sich aufgerichtet hatte, um die Verfolgungsjagd besser beobachten zu können, musste grinsen. Sie wusste nicht, was geschehen war, aber das strenge, verbissene Gesicht des Mannes, der auch jetzt die Jagd nicht aufgab und rücksichtslos seine Ellbogen nutzte, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, führte dazu, dass sie unwillkürlich für den Kleinen Partei ergriff.
    »Hast du das gesehen?«
    Sie wandte sich zu ihrem Vater, doch Richard von Graberg hatte weder die zornigen Rufe gehört noch auf den Jungen geachtet, der nun flink an der Mole entlanglief, sondern sich stattdessen in den dicken Packen Dokumente vertieft, den er mit sich herumtrug.
    Elisa seufzte, wie sie ihn da so sitzen sah. Er musste den Inhalt all der Unterlagen, die für ihre Auswanderung nach Chile vonnöten waren, längst auswendig kennen – dennoch überprüfte er sie immer wieder, als verhießen diese Blätter Papier das letzte bisschen Sicherheit, das es auf dieser unsteten Welt noch gab. Der Überfahrtsvertrag, den sie mit dem Auswanderungsagenten geschlossen hatten, befand sich darunter, die Liste über sämtliche anfallende Preise sowie die geplante Abfahrtszeit, außerdem eine Zeichnung mit der genauen Route, die das Schiff nehmen würde, und schließlich ihre Aufenthaltskarte für Hamburg, die für vierzehn Tage ausgestellt worden war.
    »Vater … gleich geht es aufs Schiff – und dann brauchen wir die Aufenthaltskarte nicht mehr«, sagte Elisa leise.
    Richard von Graberg blickte unschlüssig hoch und kniff die Augen zusammen, als würden sie ihm Schmerzen bereiten. Elisa ahnte, dass er Schwierigkeiten beim Lesen hatte, auch wenn er sich das nicht
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