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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst
Autoren: Marcus Sakey
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riss sich die Maske vom Gesicht, und auch Bobby steckte den feuchten Stofffetzen in die Tasche. Der Türsteher lag immer noch als Häufchen Elend neben seinem Hocker, exakt so, wie sie ihn zurückgelassen hatten. Bobby stieg über ihn drüber, und schon waren sie wieder in der Gasse. Die Tür schlug hinter ihnen zu und schnitt die Musik abrupt ab.
    Bobbys Hände zitterten, als hätte er Parkinson. »Verdammt!«
    »Ich weiß.« Will stieß einen mächtigen Seufzer aus, während sie nach Süden liefen, weg von dem gestohlenen Ford, mit dem sie gekommen waren. »Scheißbodyguard.«
    »Was ist da gelaufen?«
    »Er wollte nicht hören.«
    »Mann, was war das?«
    »Das passiert. Gehört zum Job.«
    »Einfach so.« Bobby wollte schreien, nur noch schreien. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt einfach den Mund hatte aufreißen und losbrüllen wollen.
    »Genau.« Will bog links ab, zu einer Verladerampe.
    »So einfach kann es nicht sein.«
    »Ist es aber.«
    »Warte mal.« Bobby hielt inne und blickte sich um. Er hatte das Gefühl, diese Gasse zum ersten Mal zu sehen. »Das ist die falsche Richtung. Der Chrysler ist weiter drüben.«
    »Ich weiß.«
    Als Erstes registrierte er den Lichtblitz, einen punktgenauen Stroboskopeffekt. Erst dann hörte er das Geräusch. Bobby keuchte, ließ den Koffer fallen und fasste sich an die Brust – sie war nass. Im Nachhall des Mündungsfeuers erkannte er den Boden, der immer schneller auf ihn zuraste, Glasscherben auf dreckigem Beton, bis er mit den Knien aufkam und die Welt einen Ruck machte. Er kippte nach hinten, doch er kapierte es immer noch nicht, die Puzzleteile lagen vor ihm, aber er konnte sie nicht zusammensetzen. Dann stand Will über ihm, steckte die Pistole ins Holster und griff nach dem Koffer, den Bobby eben noch getragen hatte.
    Nein. Nein, nein, nein!
    Einen Moment lang verharrte Will einfach und blickte ihn an, ein schwarzer Schattenriss vor schwarzem Himmel. Der Schatten fasste sich hinters Ohr und zog etwas hervor. Eine Zigarette. Ein Feuerzeug klickte, die Flamme fraß sich hungrig durch den Rauch, das Licht blendete Bobbys Augen.
    Ich bin ein harter Kerl , dachte er noch, bevor ihm die Augen zufielen.
     

 
Mai 2006

2
     
    Vor lauter Regen und Akronymen konnte Tom Reed nicht schlafen.
    Der Regen war nicht echt. Er kam aus dem kleinen Gerät auf Annas Nachttisch. Im Grunde klang es kaum nach Regen, eher wie statisches Rauschen, aber sie behauptete, dass sie damit besser schlafen konnte. Tom hatte nichts dagegen, obwohl er jedes Mal in sich hineinlächelte, wenn sie das Ding auch bei richtigem Regen einschaltete. Regen aus einer Maschine, um den Regen auf der Fensterscheibe zu übertönen, genau wie die dicken Vorhänge, die das Tageslicht aussperrten, damit der Wecker den Sonnenaufgang simulieren konnte. Wie hatten sie vor Jahren gelacht, als sie feststellten, dass sie den Kampf gegen die Yuppieexistenz aufgegeben hatten, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.
    Aber der Regen war nicht das eigentliche Problem. Sondern die Akronyme.
    KW. SST. IUI. IVF. ICSI.
    Zu Beginn waren sie ihnen amüsant erschienen, wenn auch etwas geziert: KW für Kinderwunsch, SST für Schwangerschaftstest. Anna hatte eine ganze Gemeinschaft im Netz aufgetan, Tausende Frauen, die sich auf Fruchtbarkeitsseiten über ihre Geschichten austauschten und in Foren intimste Details preisgaben. Da wurden Basaltemperaturen analysiert, da wurde die Konsistenz von Zervixschleim unter die Lupe genommen wie Teeblätter bei der Wahrsagerin. Durch diese Webseiten hatte sich Anna besser gefühlt – sie gaben ihr etwas, das Tom ihr offenbar nicht geben konnte. Damals tauchten die ersten Akronyme in ihrem Leben auf.
    Die späteren kamen von den Ärzten – und sie waren weder amüsant noch geziert, sondern grausam und kostspielig. Tom rollte sich vorsichtig auf die Seite, um Anna nicht zu wecken. Früher hatten sie eng aneinandergeschmiegt geschlafen, die Hitze ihres Rückens an seiner Brust, der Geruch ihres Haars in seiner Nase. Zwei Körper, die zusammenpassten wie Legosteine. Manchmal hatte er das Gefühl, dass das lange, sehr lange her war.
    IUI. Intrauterine Insemination.
    Er versuchte, an die Arbeit zu denken, an ihre klar umrissene, todlangweilige Banalität. Vor seinem inneren Auge erschien sein Büro, zwei Komma fünf auf drei Meter, weißer Hängeboden unter der Decke, ein metallener Modul-Schreibtisch und ein schmales Fenster, in dem er bloß sein eigenes Spiegelbild sah,
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