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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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kreische hysterisch und bin wütend auf die Ärzte, die betroffen auf den EKG -Monitor starren. Hektisch setzt mir einer der Ärzte die Spritze mit dem Gegenmittel in die Nadel in meinem Arm. Die Hornissen hören auf zu fliegen, und mein Herz findet wieder in einen akzeptablen Rhythmus zurück. Dem Elektroschock entkomme ich noch – für dieses Mal.
    Wir haben ihn, den Namen für meine Erkrankung: Brugada-Brugada-Syndrom.
    Jetzt interessiere ich mich auch dafür, was dieses Syndrom genau ist, wie es sich auswirkt, wie man es behandelt – einfach alles daran erscheint wissenswert. Wissen ist schließlich Macht!
    Die nächsten Tage erlebe ich wie in Trance. Während ich die von Freunden mitgebrachten Auszüge zum Brugada-Brugada-Syndrom aus dem Internet interessiert aufsauge, registriere ich nicht wirklich, dass es hierbei um meine Erkrankung geht.
    Das Brugada-Brugada-Syndrom ist ein Defekt der Natrium-Kalium-Kanäle des spezifischen Erregungsleitungssystems am Herzen. Die Krankheit ist noch unerforscht, und weltweit sind zum Zeitpunkt meiner Diagnose 273 Fälle bekannt. Die Wissenschaft geht davon aus, dass es sich um eine genetische Mutation handelt, deren Ursache unbekannt ist. Bekannt ist, dass sie regelmäßig Kammerflimmern verursacht, das meist nur mittels eines Defibrillators beendet werden kann.
    Ich begreife nicht, warum diese Erkrankung ausgerechnet mich trifft. Schließlich ist sie so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Und der wäre mir wesentlich lieber. Eigentlich wäre mir zu diesem Zeitpunkt alles lieber, als mit solchen Tatsachen konfrontiert zu werden.
    Doch Krankheiten fragen die Betroffenen niemals nach deren Meinung. Sie fordern knallhart Akzeptanz. Und sie dulden eines auf keinen Fall: die Frage nach dem Warum. Und damit erledigt sich auch die Frage nach der Gerechtigkeit. Das Leben ist nicht fair.
    Als ich aus meiner Trance erwache, bin ich wütend, frustriert, und mir fehlen die Worte. Schnell und ruhelos dreht sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf. Ich weiß nicht weiter, sehe keinen Weg für mich mit dieser Erkrankung. Ich fühle mich dem Tod mehr verbunden als dem Leben. Ich beginne meinen langen Weg auf dem schmalen Pfad, rechts und links lauert im Abgrund der Tod. Ein falscher Schritt, und er hat mich, der Sensenmann. Sterben auf Raten.

Ted

    Ich bin viel zu träge
Um aufzugeben
Es wär’ auch zu früh
Weil immer was geht
    Das Leben ist nicht fair
    Du hast der Fügung
Deine Stirn geboten
Hast ihn nie verraten
Deinen Plan vom Glück
    (zitiert aus »Der Weg«
von Herbert Grönemeyer)

Kerckhoff-Klinik – das erste Mal
    E s ist so weit: Der Defibrillator soll Einzug in mein Leben halten. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Zur Implantation des Geräts werde ich mit dem Krankenwagen nach Bad Nauheim in die Kerckhoff-Klinik – eine kardiologische Spezialklinik – verlegt.
    Auf der Fahrt dorthin würde ich am liebsten einfach aussteigen. Egal wo. Hauptsache keine Klinik. Hauptsache keine Krankheit. Doch wohin ich auch in Zukunft gehen werde – das Brugada-Brugada-Syndrom wird dabei sein. Es ist mein Begleiter auf Lebenszeit.
    In der Klinik werde ich herzlich empfangen: Das Pflegepersonal auf der Überwachungsstation ist freundlich und einfühlsam. Lediglich die Ärzteschar, die mich erwartet, verursacht mir ein wenig Unbehagen.
    In den folgenden Tagen habe ich mit sehr vielen Ärzten zu tun. Es werden noch einige Untersuchungen gemacht, zum Beispiel eine elektrophysiologische Untersuchung mittels Herzkatheter und eine Magnetresonanztomographie des Herzens.
    Aufgrund der besonderen Aufmerksamkeit, die mir zuteilwird, komme ich mir vor wie ein seltener Mutant. Dieser Eindruck wird durch Bemerkungen wie: »Ach, hier kommt ja die Frau Brugada«, verstärkt. Ich fühle mich nicht gut.
    Selbst zu diesem Zeitpunkt hoffe ich noch, dass den Ärzten der Kerckhoff-Klinik vielleicht eine andere Lösung einfällt, um gegen meine Krankheit vorzugehen. Aber auch hier wird mir von allen Fachleuten bestätigt, dass es aus medizinischer Sicht nur einen Weg gibt, wenn ich überleben will: den implantierten Defibrillator.
    Wenn ich nicht untersucht werde, liege ich die meiste Zeit fast regungslos auf dem Bett in meinem Zimmer, das ich mit zwei älteren Damen teile. Ich habe Kopfhörer auf, lausche immer wieder denselben CDs, ohne sie wirklich zu hören. Ich möchte mich ablenken, doch mein Kopf ist voll, und ich sträube mich gegen das Aggregat – mit Händen und Füßen und all meinen
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