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Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Titel: Ich schau dir zu: Roman (German Edition)
Autoren: Paule Angélique
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Clermont-Ferrand ereignet. Ein Wagen war direkt vor Harry gegen die Leitplanke geprallt. Mein Mann war mit großer Geschwindigkeit aufgefahren, es war zu einem Zusammenstoß mit fatalem Ausgang gekommen. Der Verursacher war auf der Stelle tot gewesen, Harry war erst zwei Tage später aus dem Koma erwacht. Nachdem uns die Besitzer des Hauses nicht mehr erreichen konnten, hatten sie sich anhand der Meldung in den Fernsehnachrichten die Sache zusammengereimt. Im Krankenhaus hatte man ihnen gesagt, dass der Fahrer des Wagens, zugelassen auf Harry Blin, allein im Auto gewesen war. Schließlich fanden mich die beiden. Ich sagte ihnen, dass aus Versehen die Tür hinter mir zugefallen sei. Sie fühlten sich schuldig wegen des so primitiven Schlosses, das sich nur von außen öffnen ließ und das sie schon lange auswechseln wollten. Meine Version der Geschichte war glaubhaft.



 
     
    H arry blickt aus dem Fenster. Er verbringt viel Zeit damit, die Passanten zu beobachten. Erst legt er seine Lieblings-CD ein, die Suiten von Bach, gespielt von Pierre Fournier, dann setzt er sich ans Fenster. Er sagt, genau so könne er am besten nachdenken. Seit einigen Monaten schreibt er an einem Buch über die Zeit: der Zeitraum und dessen Wahrnehmung, die sich nach Epoche und Kultur unterschied. Eine Arbeit, für die man einen langen Atem braucht und die Harrys Neigungen insofern verändert hat, als er sich mittlerweile regelmäßig in Bibliothekslesesälen aufhält. Wir sind umgezogen. Wir brauchen nun eine ebenerdige Wohnung. Harry ist querschnittsgelähmt.
    Meine Bilder verkaufen sich recht gut. Meine Galerie in Saint-Germain-des-Prés hat für mich eine Ausstellung in Tokio und eine andere in Madrid organisiert. Hélène und Robert haben zu diesem schnellen und für mich neuen Erfolg beigetragen. Meine letzte Serie, Nachtstücke, zeigt Körper, die in der Dunkelheit gefangen sind. Nur schwach angedeutete Körper, lediglich verschwommene Lichtpunkte, die in der Finsternis feststecken – was vielleicht eher auf einer Stufe mit der japanischen oder spanischen Malerei steht. Da seine Verlegertätigkeit ruht, ist Harry dankbar, dass meine Arbeit es ihm erlaubt, sich dem Schreiben zu widmen.
    Unser Heim ist jetzt eine ehemalige Druckerei am Parc Monceau. Der Architekt, den wir beauftragten, hat sie nach unseren Wünschen so umgebaut, dass Harry selbstständiger leben kann: Der Boden ist völlig eben, die meisten Räume liegen offen in einer Reihe. Ich habe mich an das leise Surren gewöhnt, das jede Bewegung des Rollstuhls begleitet. An den kritischsten Stellen kann Harry sich mithilfe von Stangen, die auf halber Höhe angebracht sind, an den Armen hochziehen. Nur die Schlafzimmer haben Türen. Harrys Zimmer grenzt ans Wohnzimmer, meines ans Atelier. Wir teilen nicht mehr dasselbe Bett. Harry will es nicht. Byron schläft bei mir. Seit den Ereignissen im Keller lässt er sein Herrchen nicht mehr in seine Nähe. »Sauhund!«, hat Harry ihn angeschnauzt, als er aus dem Krankenhaus kam und merkte, dass er in Ungnade gefallen war. Dieser Konflikt führt im Haus zu bizarren Bewegungsmustern. Hund und Herrchen nehmen nie denselben Weg. Der eine beobachtet den anderen, nur damit er ihm aus dem Weg gehen kann. Abgesehen davon scheint Harry sich mit seiner Situation arrangiert zu haben. Nur, er redet weniger.
    Ich für meinen Teil habe keinen Wert darauf gelegt, ihn an den Vorfall zu erinnern, bei dem ich fast lebendig begraben worden wäre. Das Schicksal hat es Harry mit gleicher Münze heimgezahlt.
    Mein Mann surft weiterhin unter dem Pseudonym Ysé im Netz. Er will die kostbare Perle ausfindig machen, die das Geheimnis wahren wird. Eine Art Double seiner selbst, das ausreichend vertrauenswürdig ist, damit seine regelmäßigen Besuche hier nicht ans Licht kommen. Genauestens prüft er die Antworten in einem komplexen Fragenkatalog; damit will er treffsicher einen Mann finden, der dem gewünschten Profil entspricht: einen einfühlsamen und überdurchschnittlich intelligenten Performer. Als Harry glaubt, ihn gefunden zu haben, ruft er alle Spiegelhändler in Paris und Umgebung an. Seine sehr spezielle Anfrage stößt jedes Mal auf Zögern und übermäßige Wartezeiten. Bis ihn einer der Händler an einen Kinoausstatter verweist. An der Wand zwischen dem Wohnzimmer und seinem Zimmer lässt Harry einen Einwegspiegel von fast drei Metern Länge und einem Meter Höhe anbringen. So entgeht ihm nichts von dem, was im Salon vor sich geht. Ich schließe
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