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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
Autoren: Hape Kerkeling
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probieren wir die kleinen Werkzeuge aus und lassen sie hell in der gleichen Tonhöhe durch das Straßencafé bimmeln.
    Die Ankunft in Santiago erscheint einem in der Tat wie das Erreichen der Himmelspforte. Jeder Pilger kommt am Ende seiner Reise an den wunderbaren, immer gleichen Ort, aber der Empfang ist für jeden anders. Womöglich richtet sich der Willkommensgruß auch nach der Gemütslage des Ankömmlings?
    Im Winter, bei Schneegestöber, mit einem pfeifenden kalten Wind im Nacken hier auf der leeren Plaza anzukommen ist wahrscheinlich höllisch. Und die verschnörkelte rote Kathedrale wirkt bei nebligem Regenwetter sicher auch eher wie ein ungemütliches Gruselschloss.
    Trotzdem bleibt der Ort der gleiche.
    Mein Pilgerweg lässt sich nun wie eine Parabel meines Lebensweges deuten. Es war eine schwierige Geburt, was bei mir tatsächlich zutrifft. Am Anfang des Weges und in meiner Kindheit finde ich schwer zu meinem Tempo. Bis zur Mitte des Lebensweges begleiten mich, bei aller dazugewonnenen positiven Erfahrung, Irrungen und Wirrungen und ich gerate ab und zu aus dem Tritt. Aber etwa ab der Hälfte des Weges marschiere ich frohgemut dem Ziel entgegen. Fast scheint es so, als würde der Camino mir gnädigerweise sogar einen vorsichtigen Blick in meine Zukunft gewähren. Heitere Gelassenheit könnte doch ein echtes Ziel sein!
    Jeder einzelne Wandertag war ebenso strukturiert wie der gesamte Camino. Das Detail ist das Abbild des Ganzen. Eins ist in Allem und Alles ist in Einem.
    Morgens komme ich schwer in die Puschen, mittags finde ich dann mein Lauftempo und gegen Abend marschiere ich müde, aber gelassen und entschlossenen Schrittes dem Ziel entgegen und habe auch noch an Kraft gewonnen.
    In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich überlebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.
    Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Restlos. Und er baut dich wieder auf. Gründlich.
    Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück. Du musst ihn alleine gehen, sonst gibt er seine Geheimnisse nicht preis.
    Ich muss vor allem an die denken, die diesen Weg nicht gehen können, und ihnen sei versichert: Dieser Weg ist nur eine von unendlichen Möglichkeiten. Der Camino ist nicht einer, sondern tausend Wege, aber jedem stellt er nur eine Frage:
    »Wer bist du?«
    Bis spät in die Nacht hocken wir drei feiernd auf der ausgeflippten Plaza zusammen und genießen unseren eigenen Leichenschmaus. Als der Tag sich längst geneigt hat, wirkt Anne mit einem Mal melancholisch und ich frage: »Und? Was hat dieser Weg dir bedeutet? Glaubst du jetzt?«
    Sie hält kurz inne und bekennt lächelnd: »Der Camino hatte für mich nur einen Sinn: I have made friends with you and Sheelagh. Ihr seid meine Freunde geworden. Daran glaube ich und dafür hat sich der ganze Weg gelohnt.«
    Mit einem Feuerwerk wird um Mitternacht die Woche des Apostels Jakob eingeläutet, deren Höhepunkt am 25. Juli, dem Nationalfeiertag Galiciens, erreicht wird. Der Jakobstag! Fünf viel zu kurze Tage verbringen wir gemeinsam in Santiago und genießen das bunte Treiben der Festwoche. Wir besuchen Konzerte, gehen tanzen und feiern eine verrückte Zeit miteinander. Meine ausgelatschten Wanderschuhe werfe ich, nachdem ich sie noch fotografiert habe, weg.
    Keine zwei Stunden laufe ich mit meinen schönen neuen Schuhen und es bilden sich dicke Blasen an der Ferse.
    Kurz vor dem Rückflug kommen meine Blasenpflaster so doch noch zum Einsatz.
    Der 25. Juli ist unser Abreisetag. Sheelagh bricht, so wie sie es fast immer gemacht hat, im Morgengrauen auf, um ihr Flugzeug nach Madrid zu erreichen. Wir haben gar nichts gesagt und uns nur fest in die Arme genommen.
    Am Nachmittag chauffiert mich Anne in ihrem Seat-Leihwagen in das knapp sechzig Kilometer entfernte Vigo. In einem Auto zu sitzen kommt uns fremd und unnatürlich vor und es wird ein paar Tage brauchen, bis wir uns wieder an das technisierte Leben gewöhnt haben. Auch unseren Abschied in Vigo gestalten wir, nachdem wir uns wieder fünf Milchkaffees in einer Bar gegönnt haben, so undramatisch wie nur eben möglich. Als Anne dann endgültig laut hupend abfährt, fühle ich mich so einsam, wie ich mich auf dem ganzen Weg
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