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Ich bin dann mal alt

Ich bin dann mal alt

Titel: Ich bin dann mal alt
Autoren: Johannes Pausch , Gert Boehm
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herauszufinden, warum einem dieses oder jenes Erlebnis so viel Kraft gegeben
hat. Entscheidend ist dabei, ob es gelingt, die damalige Freude in die Gegenwart hereinzuholen. Ein alter Mensch kann anderen etwas von seinen vergessenen Wegen erzählen und damit Erfahrungswissen weitergeben, aber vor allem sollte er eine Brücke zu seiner eigenen Gegenwart herstellen. Wenn zum Beispiel eine Frau früher gerne gekocht hat, aber im Laufe der Zeit immer mehr auf Fertiggerichte übergegangen ist, dann könnte sie im Alter ihren vergessenen Weg wieder neu beschreiten – und mit Freude Zutaten einkaufen, kochen und essen, am besten sogar mit anderen Menschen gemeinsam. Oder ein Rentner, der sich früher immer über sein Kräuterbeet hinterm Haus gefreut hat, aber später keine Möglichkeit mehr hatte, Kräuter anzusäen – er kann jetzt auf seinem Balkon das verloren gegangene Hobby wieder pflegen. Das Wiederfinden vergessener Wege ist wie das Wiederentdecken von Leben. Es darf aber nicht dabei bleiben, dass man von der alten Zeit nur erzählt wie ein Kriegsveteran von der Kameradschaft im Schützengraben – man sollte die vergessenen Wege bewusst wieder aktivieren, ohne sich dabei zu überfordern. Natürlich wird sich manches nicht einfach in der Gegenwart wiederholen lassen, aber schon die geistige Auseinandersetzung mit früheren Erfahrungen ist hilfreich und anregend.
    Auch religiöse Eindrücke finden sich häufig in den vergessenen Wegen, vor allem als Bilder aus der Kindheit: das abendliche Gebet der Mutter am Bett, gemeinsam gesungene Lieder, die erzählten Geschichten aus dem Leben Jesu, der Heiligen und der Engel, der geschmückte Christbaum, die Weihnachtsplätzchen. Erstaunlicherweise sind sogar bei Demenzkranken, die sonst kaum noch ansprechbar sind, Gefühlsregungen deutlich wahrnehmbar, wenn sie solche Lieder oder Geschichten hören. Offenbar handelt es sich bei religiösen Erinnerungen um elementare Erfahrungen, die den Menschen ein Leben lang begleiten und ihm Sicherheit geben – auch wenn sie lange Zeit verschüttet
waren. Deshalb ist es im Alter sinnvoll, sich auch die religiösen Bilder ins Gedächtnis zu rufen, um die kindlichen Erfahrungen vielleicht in der Gegenwart wieder zu nutzen.
    »Kennst du mich noch?«
    Menschen sind neugierige Wesen – und seitdem im Fernsehen ständig Kandidaten zu allen möglichen Themen befragt werden, ist Quiz auch im Alltag ein beliebtes Unterhaltungsspiel geworden. Wahrscheinlich ist es jedem schon einmal passiert, dass mitten in der Stadt, beim Wiesenfest oder im Wirtshaus plötzlich ein Fremder vor dir steht und die Frage stellt: »Kennst du mich noch?«
    Meistens hat man keine Ahnung, wer der Unbekannte ist, der dich jetzt wie hypnotisiert anschaut. Und weil man nicht unhöflich sein will, windet man sich mit ein paar belanglosen Sätzen um den schwierigen Moment herum – in der Hoffnung, eine Eselsbrücke zu finden. »Irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor«, ist dann eine der gängigen Formulierungen. Genau das sagte Franz, als ihn kürzlich ein Mann auf der Straße ansprach und sofort in der angeblich gemeinsamen Vergangenheit herumstocherte. »Na – kannst du dich wirklich nicht mehr an mich erinnern?«, bohrte der Quizmeister weiter und gab dann einen ersten Tipp: »Ich sage bloß: zweite Klasse Volksschule, letzte Bank hinten neben dem Kohleofen.«
    Der Franz rechnete blitzschnell im Kopf: Das Ereignis musste 63 Jahre zurückliegen, aber viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht, denn der Unbekannte drängelte schon wieder: »Und?! Weißt du jetzt, wer ich bin?«

    Der Franz wusste es nicht. Er saß in der Falle. Aber sein ehemaliger Klassenkamerad ließ nicht locker. »25 Jahre nach der Schule haben wir uns auf dem Oktoberfest in München getroffen«, grinste er, »damals warst du mit dieser schwarzhaarigen Helga unterwegs, die ganz scharf auf dich war.« In diesem Moment trat Gertraud, die Gattin von Franz, aus dem Schuhgeschäft heraus – sie hörte noch den letzten Satz. »Was war das für eine Schwarzhaarige?«, wollte sie gleich wissen, und damit war schon die nächste Quiz-Runde eingeläutet. Der arme Franz konnte sich weder an den alten Schulfreund noch an die schwarzhaarige Helga erinnern. Er atmete auf, als der fremde Mann, der sich dann als ein gewisser Fritz vorstellte, endlich davon ging – ziemlich beleidigt. Und seine Gertraud sprach wegen der geheimnisvollen Schwarzhaarigen fast eine Woche lang kein Wort mit ihrem Franz.
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