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Hurra wir kapitulieren!

Hurra wir kapitulieren!

Titel: Hurra wir kapitulieren!
Autoren: Henryk M. Broder
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meine ganze Energie in den Kampf für den Frieden. Die anderen Parteien wollen den langsamen Abzug der Soldaten, ich will den sofortigen Abzug. Das ist alles, was ich will. Ich will nicht, dass noch mehr Menschen sterben. Alle zwölf Minuten stirbt ein Mensch im Irak durch Gewalt. Wir sprechen jetzt etwa 25 Minuten. Das sind zwei Menschen. Zwei Menschenleben sind wertvoll.
     
    Bei allem Verständnis für die Gefühle eines Vaters, dessen Sohn ermordet wurde: Es ist bedauerlich, dass Sarkawi dieses Interview nicht mehr erlebt hat. Es wäre ihm eine Genugtuung gewesen zu sehen, dass Berg das Ur-Bedürfnis nach Rache in einen positiven Impuls umgewandelt hat und seine »ganze Energie in den Kampf für den Frieden« investiert. Es ist seine Art, mit dem Unfassbaren, Unerreichbaren, Unbesiegbaren fertig zu werden. Im Kino würde der »Terminator« jetzt loslaufen, um es den Schurken heimzuzahlen, im wahren Leben muss die Aggression umgeleitet werden.
    Das Phänomen hört auf den Namen »Stockholm-Syndrom«. Wikipedia definiert es so: »Unter dem Stockholm-Syndrom versteht die Wissenschaft ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass Opfer mit den Tätern Mitleid fühlen. Es kann sogar darin münden, dass Täter und Opfer sich ineinander verlieben oder kooperieren.«
    Der Begriff geht auf einen Banküberfall in Stockholm im Jahre 1973 zurück, bei dem die Bankangestellten, die als Geiseln genommen worden waren, eine größere Angst vor der Polizei als vor den Geiselnehmern hatten, sich nach ihrer Freilassung bei den Gangstern bedankten und diese später im Gefängnis besuchten.
    In Abstufungen kann man es bei fast allen Opfern von Entführungen beobachten. Zuerst flehen sie in Video-Botschaften um ihr Leben, kaum sind sie befreit, haben sie über die Entführer nur Gutes zu berichten und/oder greifen diejenigen an, denen sie ihre Befreiung zu verdanken haben. So war es bei der italienischen Journalistin Giuliana Sgrena, die ihren Entführern ein Führungszeugnis ausstellte, mit dem nicht einmal sie gerechnet hatten; so war es bei Susanne Osthoff, die über die Bundesregierung herfiel, obwohl oder weil diese tief in die Portokasse gegriffen hatte, um die »Archäologin« aus der Gewalt ihrer Entführer zu befreien. Zudem kündigte Frau Osthoff an, sie werde in den Irak zurückkehren.
    Sogar die beiden netten Ingenieure aus Leipzig, die 99 Tage um ihr Leben bangen mussten, zeigten sich nach ihrer Befreiung erstaunlich frei von bösen Gefühlen. Rene Bräunlich und Thomas Nitzschke waren »sehr froh, noch am Leben zu sein«, dankten allen, die zu ihrer Befreiung beigetragen hatten, auch »dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass er Deutschland fern gehalten hat vom Irak-Krieg«, denn die Entführer haben »immer gesagt, dass alles gut ist und dass Deutschland gut ist«. Auf die Frage, ob die Entführer ihnen gedroht hätten, sagten sie: »So richtig gedroht haben die nicht. Es war nur so unmissverständlich, dass sie uns mitgenommen haben.«
    Auch sonst zeigten sich die Entführer von ihrer guten Seite: »Die haben alle mit großem Engagement fünf Mal am Tag gebetet, ihre religiösen Pflichten erfüllt. Und sie haben uns, so weit es ging, über das Gute im Islam erzählt, sie haben oft im Koran gelesen. Aber fanatisch waren die nicht. Die haben signalisiert: Wir akzeptieren auch andere.« Wobei der Lage entsprechend offen bleiben musste, ob als Gäste oder als Geiseln.
    »Sie haben schon versucht, uns von ihrer Religion zu überzeugen. Sie haben uns Informationsmaterial in englischer Sprache gegeben. Wir mussten ständig sagen, dass ihre Religion gut ist...« Mit etwas gutem Willen könnte man die Entführung auch als eine Einladung zu einem Kurs »Der Islam in Theorie und Praxis« verstehen, mit einer extrem intensiven individuellen Betreuung der Teilnehmer. Auf die Frage, ob sie misshandelt wurden, antworteten die Leipziger Ingenieure: »Nein. Nie, wir wurden nur festgehalten.«
    Und auf die Frage, was das für Typen waren, von denen sie festgehalten wurden, gaben die Befreiten diese Einschätzung: »Im Nachhinein würde ich sagen, das waren schon welche, die sich für ihr Land eingesetzt haben«, sagte Bräunlich, worauf Nitzschke ergänzte: »Dieses Gefühl hatte ich eigentlich auch. Das waren Leute, die für ihr Land kämpfen wollten. Ob das mehr in die kriminelle oder religiöse Richtung ging,
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