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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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im Wasser.
    Dann entdecke ich ihn. Er steht unterhalb von mir in einem schmalen Boot und macht gerade die Leinen los. Ich kann sehen, dass er verletzt ist und Angst hat. Ich will seinen Namen rufen, als die ganze Welt in einem explosionsartigen Krachen untergeht. Grobe Hände packen mich und wollen mich vom Geländer wegzerren, aber ich kralle mich fest. Ich bin von Polizisten umzingelt, die schreien und mit ihren Pistolen fuchteln. Ich schreie ebenfalls, rufe wieder und wieder seinen Namen. Ich will nicht, dass er stirbt, nicht jetzt. Ich habe noch so viele Fragen.
    Er steht einen Augenblick lang da und lässt die Leinen fallen, und ich denke, er will aufgeben. Das Boot treibt ab, alle schreien und zerren an mir. Unsere Blicke treffen sich, aber seine Augen sind leer. Dann hebt er seine Waffe.
    Ich schreie seinen Namen, aber sein Körper zuckt bereits, wird von der Wucht der Kugeln geschüttelt. Er fällt auf die Knie, und das Boot beginnt zu schaukeln, ohne umzukippen. Ich höre, wie seine Waffe mit einem schweren Platschen ins Wasser fällt. Er fällt auf die Seite, und ich kann sehen, wie das Leben aus seinem Körper weicht. Eine fürchterliche Stille breitet sich aus, während das Boot stromabwärts treibt. Ich lasse mich fortziehen, verliere den Kampf gegen die fremden Hände. Im nächsten Moment liege ich auf dem harten, kalten Boden und kämpfe um mein Bewusstsein. Aber die Welt dreht sich, und alle Farben verblassen. Eine Frau redet auf mich ein, brüllt mich an. Ich kann sie nicht verstehen und hätte auch nicht die Kraft zu antworten.
    Dann erkenne ich ihn. Jack. In meiner schwarz-weiß-roten Welt ist er das Gold. Aber zwischen uns liegt eine breite, eisige Kluft, und ich fürchte, ihn nicht mehr erreichen zu können. Er kommt auf mich zugestürzt, wird jedoch zurückgehalten. Ich sehe Sanitäter mit einer Trage, die sich an ihm vorbeizwängen. Ich will Jack sagen, dass er recht hatte. Es gibt keine zweite, dritte, letzte Fassung, es gibt nur das Originalmanuskript, die spontanen Worte, den Ursprungsplot. Man kann nicht zurückgehen und es verbessern oder einzelne Absätze austauschen, damit die Geschichte glücklich endet. Man nimmt es hin oder geht daran zugrunde.
     

ACHTUNDZWANZIG
    I n einem einzigen Moment, einem einzigen Foto stecken manchmal Welten. Nicht in jedem. Aber in den besonders guten, wenn sich Licht und Schatten mischen, wenn ein Gesichtsausdruck eine komplette Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende erzählt und ein Eindruck von Bedeutung ist. Das eingefangene »Jetzt«, das Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos macht.
    Linda Book stand in der hintersten Ecke der Galerie und beobachtete das Ausstellungspublikum, das nickte, mit dem Finger deutete, lächelte, die Stirn runzelte, »Aah!« machte. Ihre Ausstellung mit dem Titel »Stelldichein« fand Anklang, viel mehr als ihre letzten Veranstaltungen. Gern hätte sie sich eingeredet, ihre Kunst hätte ein neues Niveau erreicht, aber sie wusste es besser. Sie stellte vermeintliche Schnappschüsse aus, die von einem Privatdetektiv hätten stammen können und Liebespärchen aus der ganzen Stadt zeigten. Heimliche Blicke, Umarmungen, leidenschaftliche Küsse. Einige Fotos waren zufällig entstanden, andere gestellt. Linda verriet nicht, welche zur ersten und welche zur zweiten Kategorie gehörten. Einige Kritiker bezeichneten die Ausstellung als »schamlos«, wobei sie auf die jüngsten Skandale in Lindas Familie anspielten. Andere nannten sie großartig und sensationell. Art Forum schrieb: »Die faszinierendste Arbeit von Linda Book seit vielen Jahren, vielleicht überhaupt.«
    Die Vernissage hatte bereits vor einer Woche stattgefunden, trotzdem war die Galerie voller Menschen - an einem Dienstag, immerhin. Niemand erkannte die Fotografin. Das Bild im Ausstellungskatalog war uralt und selbst damals schon bearbeitet worden. Auf diesem Foto wirkte Linda wie eine vom Wind getragene Göttin, unberührt von Kummer, Schwangerschaften, Enttäuschungen und Untreue. Nur ihr Mann, der sich treiben ließ und die Unterhaltungen belauschte, warf ihr heimlich ein wissendes Lächeln zu. Er war der Einzige, der sie kannte, hier und anderswo.
    Wenn man sie so sah, wie sie sich am Vormittag liebten, sobald die Kinder in der Schule waren, wie sie im Taxi auf dem Weg hierher Händchen gehalten hatten, wie er sie jetzt anlächelte, konnte man meinen, Linda sei immer noch die junge Frau, die nichts von den Härten des Lebens wusste.
    Durch das große Fenster
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