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Hotel van Gogh

Hotel van Gogh

Titel: Hotel van Gogh
Autoren: J.R. Bechtle
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täglichen Lebens. Und waren die nicht wichtiger als die abstrakten Gesellschaftsveränderungen und das radikale Umkrempeln des Kunstbetriebs, womit Vincent und er das Leben verbracht hatten?
    Adeline Ravoux, die Tochter der Wirtsleute, blickte schüchtern zu Theo. Stumm half sie ihrer Mutter bei der morgendlichen Arbeit. Vor einem Monat hatte Vincent ein Porträt, blau in blau, von Adeline gemalt und es ihr geschenkt. Wohin nun damit, dem Bild von der Hand eines Selbstmörders? Außerdem hatte es doch keinerlei Ähnlichkeiten mit ihr, hatte sie gesagt, als Vincent ihr das Bild überreichte. Dabei mochte sie den ruhigen Maler mit seinen eindringlichen Augen, obwohl er gleichzeitig etwas Unheimliches ausstrahlte. Im Grunde hatte sie Mitleid mit ihm.
    Kurz darauf erschien Dr. Gachet. Verstört und blass, sein Gesicht eingefallen. Der Arzt, von dem Theo sich die Genesung Vincents versprochen hatte. Von seiner sonst so sprühenden Lebensfreude war nichts geblieben.
    »Mein Beileid, Herr Theo. Aber es war nichts zu machen.«
    Theo nickte und schwieg. Plötzlich standen seine Augen wieder voller Tränen.
    Er ging mit dem Arzt nach oben in Vincents Kammer. Das Öffnen der Dachluke brachte keine Erleichterung. Der Arzt erlitt einen Hustenanfall.
    »Entschuldigen Sie, ich bin zwar einiges gewohnt, aber das ist selbst für mich etwas viel hier oben.«
    Dr. Gachet blickte stumm auf den Toten. Dann legte er ihm die Hand auf die Stirn, fasste das schlaffe Handgelenk, wie um doch noch nach einem Puls zu suchen. Er schüttelte den Kopf, als er zu Theo aufblickte.
    »Ich habe ihn nie so friedlich gesehen. Wenn Sie mir gestatten, würde ich gerne ein Kohleporträt von ihm anfertigen.«
    Theo beobachtete Dr. Gachet, als er, auf dem Holzstuhl vor dem Bett sitzend und die Beine übereinandergeschlagen, mit kurzen Strichen seinen Bruder skizzierte. Ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und hängenden Schultern. Doppelt so alt wie Vincent. Das Leben ist ungerecht. Und was war er überhaupt für ein Arzt, ein Homöopath, ein Heilkünstler, der unter seiner eigenen nervlichen Unbeständigkeit litt. Er verschrieb seinen Patienten heilende Wasser, aber hier ging es um einen operativen Eingriff! Keine Frage, in Paris hätte man Vincent retten können.
    Plötzlich machte sich Theo Vorwürfe. Ich habe die Sache mit Dr. Gachet eingefädelt. Vincent hat sich blind auf mich verlassen und damit trifft mich die Verantwortung für alles, was danach folgte.
    Im Untergeschoss hatte Madame Ravoux ein süßliches Parfum versprüht. Sie überredete den Schreiner im Ort, einen einfachen Holzsarg zu bauen, als späten Dank für das Porträt, das Vincent von seiner kleinen Tochter gemacht hatte. Dagegen weigerte sich der Pfarrer von Auvers, seine Dorfkirche, die Vincent vor kurzem noch als eine von einem unheimlichen Blau bedrohte, unstet wankende Festung gemalt hatte, für den Selbstmörder freizugeben. Er gestattete auch nicht die Benutzung des Leichenwagens, um den Toten zum Friedhof zu bringen. Während die Männer ratlos in der Wirtsstube zusammensaßen, fand Madame Ravoux Hilfe beim Pfarrer von Méry auf dem gegenüberliegenden Ufer der Oise. Vincent war krank, meinte der, wie könne man da von Selbstmord reden!
    Abends bedrängten die Wirtsleute Theo, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, er brauche alle Kraft für den kommenden Tag. Aber Theo bestand darauf, die Nacht bei seinem Bruder am offenen Sarg im Hinterzimmer der Wirtsstube zu wachen. Eine Kerze brannte. Auf Vincents Gesicht lag ein entspannt ruhiger Ausdruck. Theo trieb haltlos wie ein Zweig im Wind zwischen Wachen und Träumen. Was war er ohne Vincent? Seine Gedanken rasten. Im Schlaf war er Vincent näher als in den wachen Momenten.
    Morgens konnte er sich nicht erinnern, was er vor dem Sarg mit seinem Bruder gesprochen oder ihm versprochen hatte. Aber plötzlich trat ein einziger Gedanke in aller Klarheit hervor. Mitten in der Nacht hatte er laut in die erdrückende Stille des Raumes die Frage gestellt: Wer war dein Bruder? In diesem Augenblick war Theo wach, überwach, denn so konnte man nicht träumen.
    Vincent ist der Maler mit der wichtigsten künstlerischen Botschaft unserer Zeit, beantwortete er seine Frage. Ein von seinem Sendungsbewusstsein angetriebener Träumer, ein Utopist, der allein von Ideen und Hoffnungen lebte. Seine Bilder würden über seinen Tod hinaus wirken, und damit hatte sein Leben einen Sinn.
    Am nächsten Morgen wurde Theo vom Lauf der Dinge mitgerissen. Das
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