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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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Fremden vorbei zum Gemälde.
    Dort stand Johanna, streckte ihre Hände aus, Nele griff Johannas Hand, sie sah, dass Giovanni und Flavio die andere berührten.
    »Vergesst Samuel nicht!«, flehte Johanna, und da erst sah Nele den kleinen Jungen, der zusammengekauert neben ihr auf dem Fußboden lag. Jan bückte sich und hob ihn auf, fasste Johannas Schulter und dann liefen sie, ohne sich umzuschauen, einfach in das Bild hinein.
    Wieder umfing Nele nichts weiter als vollkommene Leere, doch bevor sie fiel, hörte sie ein Brüllen, ein lautes zorniges Brüllen.
    Es kam näher, war direkt neben ihr, als sie wieder unsanft auf ihren Knien landete. Sie sah den schwarzen Mönch, wie er das Messer hochriss und auf sie zugerannt kam. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Es gab nur sie und den dunklen Fremden, der rasend vor Zorn war. Sie hob die Arme und wollte die Augen schließen, obwohl sie wusste, dass es ihr nichts helfen würde. Er war da und er würde sie töten, er würde sie alle töten, so wie er es gesagt hatte.
    Der Fremde stieß einen weiteren Schrei aus, der ihr durch Mark und Bein ging und ihr jegliche Kraft raubte. Sie hob den Blick und schaute ihm in die Augen. Verwunderung durchzuckte sie. Die Augen des Händlers weiteten sich mit einem Mal vor Entsetzen. Aus ihnen sprach nackte Furcht. Im selben Augenblick fing der schwarzeMönch an, vor Neles Augen zu verschwinden. Sie sah seinen geöffneten Mund und die Hand, die er in die Luft reckte, und dann wurde er langsam blasser. Löste sich auf wie Nebel in der Morgensonne. Sein Schrei verstummte, und das Letzte, was Nele sah, war sein Ring, der mit einem leisen Klirren zu Boden fiel. Dann wurde es dunkel um sie.

35
    Nele fühlte etwas Weiches, Warmes unter sich. Eine Decke vielleicht oder eine dicke Jacke. Sie lag ganz ruhig und wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, die friedliche Stimmung könnte wie eine Seifenblase zerspringen und dem tobenden Chaos Platz machen, das eben noch um sie herum getobt hatte.
    Aber dann wurde sie stutzig. Der Gestank nach Fäulnis und Krankheit war verschwunden. Gierig atmete sie die kühle frische Luft ein und öffnete langsam die Augen. Ihr Blick fiel auf die reich bemalte Decke der Klosterkirche.
    Hatten sie es tatsächlich geschafft? Waren sie dem schwarzen Mönch entkommen? Doch dann durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Die Stille hatte mit einem Mal auch etwas Furcht einflößendes. Wo waren die anderen? Warum hörte sie nicht das Lachen von Flavio, das Poltern von Giovannis Stimme, und vor allem, wo war Jan?
    Nele stützte sich auf die Ellbogen und setzte sich vorsichtig auf.
    Auf dem Altar brannten unzählige Kerzen. Kleine Flammen spiegelten sich in den goldenen Ornamenten, und die Wände der Kirche schimmerten hell im sanften Licht des Mondes, der voll und rund durch die großen Scheiben schien.
    Nele streifte die Decke, die jemand über sie gelegt hatte, von den Schultern und sah sich um.
    »Nele ist wach!«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr und Flavio kam auf sie zugestürzt.
    Nele durchströmte ein neues, völlig unbekanntes Gefühl, als er ihr auf die Füße half und seine Arme um sie schlang. Sie hoffte, er würde sie nie wieder loslassen. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, roch den Duft seiner Haare, und sie wünschte sich, die Zeit würde stehen bleiben.
    Dann wurde sie von einem Geräusch rechts von sich abgelenkt. Johanna hatte sich neben den Altar gekniet und wiegte in den Armen einen kleinen Jungen. Das musste Samuel sein. Er war ebenfalls in eine warme Decke gewickelt und aus einem von dunklen Locken eingerahmten Gesicht schauten zwei wache Augen neugierig zu ihr. Neben Johanna und Samuel hockte Giovanni und führte Samuel behutsam einen Becher an die Lippen.
    Flavio reichte auch Nele ein Glas und dankbar schlossen sich ihre Finger darum. Wie ein Schleier fiel der Schrecken der vergangenen Stunden von ihr ab.
    Nele wandte den Kopf zum Altargemälde, vor dem Viviane stand. Sie hielt einen Pinsel in der Hand und wischte ihn gerade an einem Stück Tuch ab. Das Ebenbild Johannas war auf dem Gemälde verschwunden. Nele atmete erleichtert auf.
    Dann sah sie Jan.
    Er lehnte etwas abseits an einer der Säulen und schaute zu ihr hinüber.
    Einen kurzen Moment hatte Nele Angst, er könnte böse auf sie sein. Er hatte das Misstrauen, das sie noch vor wenigen Minuten ihm gegenüber empfunden hatte, sicher gespürt. In seinem Blick las sie, dass auch er fühlte, dass sich etwas
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