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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Autoren: Alexa von Heyden
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Fehlern zu konfrontieren, und ihn lebendig hassen kann. Wenn einer tot ist, dann weiß man nicht, wohin mit sich und seiner Wut. Man wird sie nie los. Für Waisenkinder, Schlüsselkinder oder Scheidungskinder haben die Leute Verständnis, wenn sie schlecht in der Schule sind, keine Freunde finden und sich nicht anpassen können. Aber niemand spricht über Depressionen und Selbstmord. Für Kinder wie meine Geschwister und mich gibt es keine Bezeichnung. Ich gab mir den Namen »Drachenkind« und dachte, ich sei ein Freak wegen dem, was damals passiert ist. Ich dachte, egal wem ich die Geschichte erzähle, jeder wird denken, dass mein Vater verrückt war. Und ich deshalb auch.



 
    »Ich habe Lust auf Spaghetti! Fahren wir zu Raffaele?«, fragt meine Mutter, als wir aus der Tiefgarage des Flughafens in Richtung Autobahn fahren. Es ist unser Ritual. Bei jedem Wiedersehen gehen wir in »unser« italienisches Restaurant in der Innenstadt. Meine Mutter isst Spaghetti mit Venusmuscheln, wenn es sie denn gibt, Caro und ich unsere Lieblingspizza mit Schinken, frischen Champignons und grüner Peperoni.
    In dem Restaurant sitzen wir, bis es spät ist, wie immer an dem Tisch in der Ecke, über dem ein altes Fischerboot mit Rudern an der Decke hängt. Wir reden, trinken Wein und flirten mit den Kellnern, so als ob wir Freundinnen wären, die sich lange Zeit nicht gesehen haben. Meine Mutter will alles über meinen neuen Freund wissen, sie kennt Magnus bisher nur aus kurzen Telefonaten, in denen sie ihn für meine Begriffe bereits peinlich genau verhört hat:
    »Bist du lieb zu meiner Tochter?«
    »Ähm, ja, Frau Schulz! Natürlich.«
    »Wirklich? Ich warne dich. Sie ist mein Augenstern. Du würdest sie nie unglücklich machen, oder?«
    »Ja … Nein, meine ich! Ich will es zumindest versuchen.«
    Meine Mutter kennt da kein Pardon. Sie sagt immer, wenn noch einem von uns etwas passiert, dreht sie durch. Dazu gehört auch, dass sie nicht will, dass uns noch einmal von irgendwem das Herz gebrochen wird.
    Ich erzähle ihr, dass es zwischen mir und Magnus auf jeden Fall etwas Ernstes sei. Allein schon wegen Thorstens Tod.
    »Schrecklich, diese Geschichte!«, ruft sie so emotional, dass sie selbst ein bisschen erschrickt. Die Leute am Nebentisch spitzen die Ohren. Ich beuge mich näher zu ihr rüber und erzähle, wie ich auf der Beerdigung von Thorsten das Gefühl bekam, etwas klären zu müssen. Sie nickt immer wieder, nimmt meine Hand und tätschelt sie, näher auf das Thema eingehen will sie in der Öffentlichkeit nicht. Zumindest nicht in ihrem Stammlokal, wo am Nebentisch Leute sitzen, die man eventuell vom Einkaufen oder Golfspielen kennt. Dabei wissen sowieso alle, dass meine Mutter Witwe ist und was damals passiert ist.
    Meine Mutter schaut mich an. Manchmal schwappen ihre Augen fast über, weil sie bis zum Rand mit Tränen gefüllt sind. Die Tränen gehören zu ihren Augen seit dem Tag, an dem mein Vater starb. Sie gehen nicht weg. Ich schiebe meinen Hände über den Tisch und nehme ihre rechte Hand. Die Hand meiner Mutter ist klein, aber der Druck unheimlich kräftig. Ich denke daran, was sie schon alles gepackt hat. Als Krankenschwester hat sie alten Männern die Zähne in den Mund geschoben und den Auswurf vom Bauch gewischt. Solche Anekdoten erzählt sie mir gern, wenn ich mich über irgendetwas beschwere. Mit diesen Händen hat sie auch versucht, meinen Vater zu retten. Das war der schwerste Job.
    »Deine Schwester wollte eigentlich noch dazukommen. Ich frage mich, wo sie bleibt«, sagt meine Mutter und dreht sich in Richtung Eingang.
    »Vielleicht hat sie es vergessen?«
    »Sie würde dich nie vergessen. Caro konnte heute Nacht vor Freude bestimmt kein Auge zumachen, weil sie wusste, dass du kommst. Du bist doch ›ihre Sunny‹. Bestimmt ist sie nach der Uni nach Hause gefahren und wartet dort auf uns.«
    »Nach Hause? Also zu sich oder zu dir?«
    »Mein Zuhause«, sagt meine Mutter mit schmalen Lippen und schaut mich so traurig an. Meine Schwester wohnt jetzt in einer kleinen Wohnung in der Innenstadt. Erst zogen meine Brüder zum Studieren weg, dann zogen ich und zuletzt Caro aus. Jetzt ist meine Mutter wirklich allein. Wenn man beide Eltern noch hat, kann man vielleicht nicht nachvollziehen, wie ätzend das Gefühl ist zu wissen, dass sich die Mutter abends ein Spiegelei brät und dann allein auf dem Sofa einschläft. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich wieder wegfahre, aber ich muss erwachsen werden.
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