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Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Titel: Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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jeder Schritt, den ich zurücklegte, schien mich ein winziges bisschen mehr Kraft zu kosten als der vorherige. Es war wohl nur die pure Todesangst, die mir die Energie verlieh, das freie Stück irgendwie zu überwinden; und auf den letzten Metern taumelte ich nur noch. Aber ich hatte das Glück, um das ich gebetet hatte. Niemand entdeckte mich. Kein Schrei gellte auf, keine Schritte näherten sich mir, keine Hand legte sich von hinten auf meine Schulter, um mich zurückzureißen – nichts von all den Schrecknissen, mit denen mich meine außer Rand und Band geratene Phantasie peinigte, während ich das freie Stück des Schienenstranges überwandt. Unbehelligt erreichte ich den Wald, torkelte noch einige Schritte weit zwischen die Bäume und sank dann keuchend und mit hämmerndem Herzen auf die Knie.
    Für die nächsten Minuten war ich völlig hilflos. Ich hockte da, am ganzen Leibe zitternd vor Kälte und Erschöpfung, und in meinem Magen breitete sich allmählich eine immer schlimmer werdende Übelkeit aus. Doch trotz allem fühlte ich mich ein wenig besser, als der Schwächeanfall endlich nachließ. Die Erschöpfung, die ich spürte, war normal und nach einer Nacht wie der, die ich hinter mir hatte, zu erwarten, aber ich hatte jetzt wenigstens die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt und auch das Gefühl war in meine Arme und Beine zurückgekehrt; wenn ich auch auf das eine oder andere davon liebend gerne verzichtet hätte. Die bloße Vorstellung, in diesem Zustand die acht Meilen bis zum nächsten Ort zurücklegen zu müssen, jagte mir zwar schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken, doch wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, dann schnitt die Bahnlinie in nicht einmal allzu großer Entfernung von Brandersgate eine Straße; vielleicht würde ich einen Wagen anhalten können, der mich mitnahm.
    Ich stand auf, warf einen letzten, sichernden Blick durch die Bäume hindurch nach Brandersgate zurück – dort drüben rührte sich nichts. Die Stadt lag wie ausgestorben da – und machte mich dann auf den Weg. Ich folgte den Schienen, ging jedoch neben dem eisernen Strang entlang, denn das Gehen auf dem Waldboden war weit angenehmer als auf dem Schotter zwischen den Schwellen, und diesmal war es genau umgekehrt: Mit jedem Schritt kehrte ein bisschen von meiner Kraft zurück. Und das Wissen, der unmittelbaren Gefahr entronnen zu sein, half mir zusätzlich. Möglicherweise, versuchte ich mich zu beruhigen, war ja alles gar nicht so schlimm. Und vielleicht war es Cohen ja gelungen, McGillycaddy zu erklären, was wirklich vorgefallen war, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte. Schließlich war er kein Dummkopf und dazu kam, dass er nicht irgendwer war, sondern immerhin ein Inspektor von Scotland Yard, den man nicht einfach so am nächsten Baum aufhängen konnte. Ich versuchte mir das Bild in Erinnerung zu rufen, wie er den Laden verlassen hatte, und je länger ich darüber nachdachte, desto weniger kam es mir vor wie das eines Mannes, der als Gefangener behandelt wurde. Aber das mochte nur ein verzweifelter Trost sein, zu dem mein schlechtes Gewissen Zuflucht suchte. So oder so – ich konnte es nicht riskieren, allein nach Brandersgate zurückzugehen. Letztendlich war da noch immer Pasons’ geheimnisvoller Meister, den ich zwar bisher noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, trotzdem aber keine Sekunde lang unterschätzen durfte, denn zweifellos war er die graue Eminenz, die hinter allem stand und ihre Fäden zog.
    Ich war etwa eine halbe Meile weit gewandert, als mir zum ersten Mal auffiel, wie still es war. Es war noch sehr früh. Hier im Wald herrschte noch immer graues Zwielicht, denn die Dämmerung war noch nicht ganz vorüber und es war Herbst. Trotzdem war es beinahe zu still. Kein einziger Vogel sang. Nichts bewegte sich. Ich hörte nicht das mindeste Geräusch außer den Lauten meiner eigenen Schritte und dem leisen Rascheln des Windes in den Baumwipfeln.
    Schließlich blieb ich stehen und sah mich mit wachsender Beunruhigung um.
    Nichts. Nirgends rührte sich etwas. Der Waldboden war mit braunen und gelben Herbstblättern bedeckt und zum ersten Mal fiel mir auf, dass diese Farben – Braun und Rot und Gelb in allen möglichen Schattierungen – auch zugleich die einzigen Farben waren, die ich sah. Kein Grün. Nirgendwo ein Fleckchen Moos, ein Büschel Gras oder eine Wildblume, kein grünes Unterholz, kein Blatt, das von den Ästen gerissen war. Dieser Wald erinnerte mich auf
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