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Heute bin ich blond

Heute bin ich blond

Titel: Heute bin ich blond
Autoren: Sophie van der Stap
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um sie zu stützen, obwohl ich mich selbst kaum auf den Beinen halten konnte. Sie war es, die mich stützte, als sie nach Hause kam, mich in die Arme nahm, als wollte sie mich nie mehr loslassen. Ich saß gerade auf dem Klo, als sie die Treppe heraufgestürzt kam. Schnell zog ich den Reißverschluss meiner Hose hoch und spülte den Angsturin hinunter. Meine Jeans schlotterten mir um den Po, vom Krebs, wie mir jetzt klar wurde.
    Ihre Augen waren feucht, aber sie weinte nicht. »Wir schaffen das«, sagte sie mehrmals.
    Ich zitterte, und ich nickte.
    Nach einer Stunde mussten wir wieder in die Klinik, zur Knochen- CT . Knochen- CT  – das klang bedrohlich.
    Meine Mutter hatte selbst erst vor kurzem unter dem riesigen Apparat gelegen und führte mich behutsam zu ihm hin. Mein Vater, meine Schwester und meine Oma, die wir auch alarmiert hatten, saßen unten in dieser Scheißcafeteria des OLVG . Ich musste meinen Schmuck ablegen, die Kleider konnte ich anbehalten. Es war ein großer Raum, aber das Gerät erschien mir noch größer. Meine Mutter drückte mir ihre Kastanie in die Hand, als Glücksbringer, und ließ mich nicht wieder los, bis ich sie davon überzeugt hatte, dass ich ihr Mantra übernommen hatte: »Es sitzt nicht in meinen Knochen. Es sitzt nicht in meinen Knochen. Es sitzt nicht in meinen Knochen.« Oder: »Ich sterbe nicht. Ich sterbe nicht. Ich sterbe nicht.«
    Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten. In dieser Zeit wird man allein gelassen, wegen der Strahlung. Ich weiß noch, dass ich die plötzliche Stille sehr angenehm fand. Ich schlief sogar ein, und das war herrlich. Das Aufwachen umso schrecklicher.
    Wir verließen den Raum und setzten uns auf die Stühle im Flur. Warum, weiß ich nicht mehr, den Befund sollten wir ja erst in der folgenden Woche bekommen. Vielleicht mussten wir uns einfach einen Moment ausruhen. Der Helfer, der zu dem riesigen Apparat gehörte, kam heraus und sagte, es sehe gut aus. Ich begriff nicht – hatte darüber nicht mein neuer Arzt zu befinden? Erst dachte ich, er wollte nur sagen, dass die Aufnahme gelungen war. So von wegen »gutes Licht« und »richtige Haltung«. Meine Mutter begriff zum Glück sofort. Offenbar stand uns die Spannung so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass der Junge uns die gute Nachricht gleich überbringen wollte, inoffiziell. Dreimal musste er sie wiederholen, bis sie zu mir durchdrang. Ich flog ihm um den Hals, und meine Mutter auch. Zwei Wangen, zwei Frauen, zwei Abdrücke. Wir rannten die Treppe hinunter, zu meinem Vater. Er kam uns schon vom Ende des Flurs entgegen. Ich lief auf ihn zu und rief: »Papa, Papa, es sitzt nicht in den Knochen! Meine Knochen sind frei, ich werde wieder gesund!« Ich warf mich in seine Arme, und er ging in die Knie. Später erzählte er mir, dieser Augenblick sei ihm am deutlichsten in Erinnerung geblieben aus der ganzen schlimmen Zeit.
    Aber die Untersuchungen waren noch nicht beendet. Am nächsten Tag musste ich zur Knochenmarkpunktion. Ich wollte nicht wieder in die Klinik, ich hasste meinen neuen Arzt und alles, was bei ihm herumlief. Er warnte mich vor den Schmerzen, aber in dem Moment waren mir die Schmerzen egal. Er holte eine lange Nadel und einen Schraubenzieher hervor und verschwand mit seinen Geräten Richtung Hüfte. Meine Hüfte. In meine Hüfte rein.
    Ein kleines Loch blieb zurück, auf das die Schwester ein großes weißes Pflaster klebte. »So, das war’s. Das hast du wirklich gut gemacht.« Es war eine liebe Schwester mit einem kurzen Männerhaarschnitt und auffälligen Ohrringen. Wir hatten sofort einen Draht zueinander, wahrscheinlich, weil sie meine Mutter noch kannte. Die hielt meine Hände und sah mir gerade in die Augen. Ich zitterte vor Angst. Angst vor Ärzten mit unheimlichen Wörtern. Angst vor Krebs. Und vor allem Angst vor dem, was noch kommen würde.

[home]
    Samstag, 29. Januar 2005
    Ich strecke wütend beide Mittelfinger hoch. Es ist Samstag, und alles ist anders. Nein, ich bin heute Morgen nicht auf den Markt gegangen, und ich habe in der Westerstraat keinen Kaffee getrunken. Nein, ich bereite mich dieses Wochenende nicht auf das neue Semester vor. Am kommenden Montag, den 31. Januar, muss ich zu meiner ersten Chemotherapie ins OLVG . In den nächsten zwei Monaten werde ich jede Woche zu den Infusionen mit Vincristin, Etoposid, Ifosfamid und was weiß ich noch alles erwartet.
    Ich stehe vor der Kamera, im Hintergrund schallt Mick Jagger aus meinen Boxen. Ich mag Mick Jaggers rauhe
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