Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
Norden des Landes wie seine Westentasche. Sein Vater war sich jedoch der Gefahr bewusst, die die Arbeit mit sich brachte. Er wusste genau, dass er ein riskantes Spiel spielte. Wenn die Russen eines Tages die Herrschaft über Afghanistan verloren, würde es gefährlich für ihn und seine Familie werden. Als Hesmat geboren wurde, hatte sich das Blatt bereits gewendet. Die Widerstandskämpfer waren stärker und stärker geworden.
    Außerdem wurde sein Vater auch noch von seiner Vergangenheit eingeholt. Dessen Vater und seine Geschwister tauchten plötzlich in Mazar auf und drängten sich erneut in sein Leben. Ihre Gegenwart brachte jene Probleme zurück, vor denen er als junger Mann geflüchtet war: Fanatismus, Glaube, Vorurteile.
    Hesmats Vater hatte seine spätere Frau vom ersten Blick an geliebt, und so heirateten sie gegen den Willen von Hesmats tiefreligiösem Großvater, der nur arrangierte Hochzeiten akzeptieren wollte. Sie hassten Hesmats Mutter. Sie gehörte nicht zu ihnen, sprach eine andere Sprache, hatte eine andere Kultur und wollte sich dem harten Diktat des strenggläubigen Schwiegervaters nicht beugen. Seine Mutter bestand darauf, dass Hesmat zur Schule ging, sein Großvater, ein strenggläubiger Mullah
- ein Religionsgelehrter -, verbot seinem Enkel jedoch die Schule. Er war der Clanälteste, sein Wort war Gesetz, und er war es nicht gewohnt, infrage gestellt zu werden. Schon gar nicht von einer Frau, die aus einem anderen Volksstamm kam und ihn nicht akzeptieren wollte. Hesmat solle den Koran lernen, befahl er: »Das Einzige, was ein Mensch braucht.«
    »Du wirst nicht wie die«, sagte seine Mutter oft zu Hesmat, »du bist für etwas anderes bestimmt!«
    Dann wurde sie plötzlich immer schwächer. Sie hatte stark abgenommen und selbst die kleinste Arbeit bereitete ihr große Mühen. Schnell war sie außer Atem, musste sich setzen und sich die Schweißperlen von der Stirn wischen.
    »Es ist nichts«, sagte sie immer wieder.
    Aber es wurde von Woche zu Woche schlimmer. Sie versuchte, ihm seine Angst zu nehmen, doch er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann brach die Krankheit endgültig aus, der Husten hörte nicht mehr auf. Hesmats Vater brachte ihr Medikamente. Medikamente, die sich in der Stadt niemand leisten konnte und die es auch nicht gab. Immer wieder hörte Hesmat sie in der Nacht husten, immer wieder wurde er durch ihre Hustenanfälle geweckt. Es klang schrecklich, wenn dieser zarte Körper vom Husten gebeutelt wurde. Immer wieder spuckte sie grünlichen Schleim in ihr Taschentuch, doch sie beruhigte ihren Sohn: »Es ist nichts«, sagte sie, »nur eine Verkühlung.«
    Wenn er verkühlt war, hatte er Schnupfen und es gab heißen Tee und ein paar Tage Ruhe, dann war alles wieder vorbei. Ihre Verkühlung wurde nicht besser. Als er schließlich Blut in ihrem Taschentuch entdeckte, bekam er Angst. Blut bedeutete Tod.
    Tagelang blieb sie damals auf ihrer Matte liegen und Hesmat kümmerte sich um sie. Sie war schwach, ihr Wille reichte nicht
aus, um aufzustehen. Niemand fragte danach. Sobald sein Vater wieder für Wochen an die Front musste, ließ die Großfamilie seine Mutter im Stich. Niemand kümmerte sich um sie, niemand wollte ihr helfen. Alle sahen ihr nur aus der Ferne bei ihrem langsamen Tod zu.
    Die Hustenanfälle wurden schlimmer. Niemand wollte es aussprechen, doch selbst Hesmat hatte inzwischen verstanden, dass seine Mutter sterben würde. Er verdrängte seine Ängste, so gut es ging. Täglich hoffte und betete er für eine Besserung, und es gab auch Tage, da schien Allah sein Gebet zu erhören. Dann schien die Krankheit eingeschlafen und den Körper freigegeben zu haben. Manchmal lachte sie sogar wieder. Er dankte Gott dafür, nur um wenige Tage später verzweifelt in einer Ecke zu weinen. Es war ein ständiges Auf und Ab und ihre guten Tage wurden immer seltener.
    Auch um seinen Vater stand es nicht zum Besten. Er hatte mit den Kommunisten paktiert, die das Land nun verließen. Schon bald würde auch er die Rache vieler zu spüren bekommen.
    Mit dem Gedanken an den Tod seiner Eltern kam der Wille zurück, und er wusste, dass er die Berge lebend verlassen würde. Er stand auf und setzte den ersten Schritt. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Irgendwann würden diese Füße ihn durch London tragen.
    Panik.
    »Ich muss nachdenken«, flüsterte er sich zu.
    Er musste klar denken. Klar denken. Sie würden ihm nichts tun. Aber immer wieder diese Geräusche. Waren es wirklich Wölfe? Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher